Wenn man wie ich Vikar/innen ausbilden darf, fragt man sich oft: Welche Eigenschaften braucht ein Pfarrer eigentlich künftig und welche sollte man fördern? Wie wird die Zukunft der Kirche aussehen, werden wir sie in zwanzig, dreißig Jahren überhaupt noch wiedererkennen? Gehen die Entwicklungen weiter, die sich heute andeuten, oder kommt irgendwann ein lang ersehnter und schon nicht mehr geglaubter Umschwung?

Hier elf Zuspitzungen, die man wie bei List-Posts üblich nicht auf die Goldwaage legen, sondern lieber selbst (in den Kommentaren unten) weiterspinnen sollte.

  1. Herzlich: Ohne Herz und Liebe zu den Menschen kann Gemeindearbeit nicht funktionieren. Der Pfarrberuf verstanden als Pfarramt gehört der Vergangenheit an. Der Verstand, den Gott zum Amt gibt, reicht alleine nicht aus, um Menschen mit der Liebe Gottes zu erreichen. Die Amtskirche verstanden als regelgerechte Institution wird heute und vermutlich auch künftig nur noch als Herzenskirche respektiert. Sie ist damit sicher mehr Kirche im Geiste Jesu als es die Amtskirche je war. Wie das #Heartgate bei twitter, die Umstellung vom auszeichnenden Stern auf das gefühlvolle Herz zeigt (schöner Artikel dazu: http://www.horizont.net/medien/nachrichten/Herz-Attacke-So-spotten-Twitter-Nutzer-ueber-das-neue-Like-Symbol-137240), wird es in unserer Gesellschaft wichtiger, Gefühl zu zeigen. Gut so. Aber nicht alle wollen da mit. Schade.
  2. Netzwerkfähig: Das Network, verstanden als Verbindung von voneinander profitierenden und aufeinander angewiesenen Individuen, ist das Paradigma unserer Zeit. Die Spinne im Netz, ausgestattet mit Herrschaftswissen und überragender Problemlösungskompetenz, wird nicht mehr benötigt. Viel wichtiger sind Pfarrer/innen als Strippenzieher, die sich als Teil des Beziehungs-Netzwerks fühlen, als das Gemeinde existiert. Dabei wird es künftig seltener als früher das Gefühl geben, das Netz als Ganzes im Blick haben zu können. Die Knotenpunkte werden individueller und chaotischer als früher miteinander interagieren und ihre eigenen Vernetzungen weniger exklusiv verstehen. Kommunikation wird nicht mehr so stark ortsgebunden sein, die Mobilität zunehmen, übergemeindliche Strukturen an Bedeutung gewinnen.
  3. Überkonfessionell: Die Bedeutung der geschichtlich entstandenen Konfessionen nimmt gerade spürbar ab. Konfessionspolemik verfängt nicht mehr. Die Pfarrerin der Zukunft wird wie aus der Zeit gefallen wirken, wenn sie die Bekenntniskämpfe der Vergangenheit weiterführt. Das heißt nicht, dass sie nicht bekenntnistreu sein darf. Aber im Herzen muss sie die Liebe zur einen, wahren, unsichtbaren Kirche tragen, die schon Martin Luther vorschwebte.
  4. Institutionentreu: Der Pfarrer der Zukunft wird auf absehbare Zeit abgesichert sein durch die Institution Kirche. Er darf sich den Ast nicht absägen, auf dem er sitzt. Er darf und muss werben dafür, dieser Institution treu zu bleiben, denn es gibt Kirche konkret nur sichtbar und als Institution, in der Regeln gelten und für die Ausstattung mit Ressourcen gesorgt ist.
  5. Kurzgesprächsfähig: Die Pfarrerin der Zukunft wird viel zu tun haben. Statt einstündiger Seelsorgegespräche wird es mehr Seelsorge bei Gelegenheit geben. Statt angefragt zu werden, wird sie auf Leute zugehen müssen. Statt einer Komm-Struktur wird sie zu den Menschen hingehen müssen. (Buchtipp: Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung, leider mit 27,99 Euro sehr teuer, Leseprobe (immerhin 25 kostenlose Seiten) hier.
  6. Selbstgesteuert: Für den Dienstauftrag des Pfarrers der Zukunft wird es kein Schema F mehr geben. In Abstimmung mit der Gemeindeleitung wird ein Pfarrer sich Aufträge selbst suchen und von Gott zeigen lassen müssen. Wie ich es diese Woche in Sachsen-Anhalt bei einem Pfarrer erlebt habe, braucht ein Pfarrer Leidenschaft und Mut, neue und verrückte Wege zu gehen, wenn die alten ins konzeptionelle Niemandsland führen.
  7. Übersetzend: Für die Pfarrerin der Zukunft wird es nicht reichen, die alten Traditionen, die Worte der Bibel im O-Ton weiterzugeben. Der garstige historische Graben wird mit der Zeit nicht kleiner, sondern größer. Die Aufgabe der Übersetzung der Botschaft Jesu und der Bibel in die heutige Zeit muss kreativ und mutig angegangen werden. Wo heute noch über Köpfe hinweg gepredigt wird, wird es in wenigen Jahren nur noch leere Kirchenbänke geben. Lebensrelevanz ist nicht nur ein elementares Schlagwort der Konfirmandenarbeit. Jeder will künftig wissen wollen, was es ihm für sein Leben bringt, in die Kirche zu gehen. Wenn er Gottes Wort nicht versteht, wird er dorthin gehen, wo es verständliche Menschenworte gibt oder gleich zu Hause bleiben. Immer weniger wird man davon ausgehen können, dass Menschen kommen, um ihre Fragen beantwortet zu bekommen. Die hermeneutische Aufgabe wird auch darin bestehen, Menschen zu zeigen, welche Fragen das Leben spannend und reich machen, obwohl die Antworten nicht immer einfach sind.
  8. App-erfahren: Die Zukunft ist digital. Sinnkommunikation findet schon heute zu einem großen Teil online statt. Face to face wird ersetzt durch Facebook und Co. Vermutlich wird es nicht reichen, Online-Pfarrer anzustellen, die rund um die Uhr in sozialen Netzwerken ansprechbar sind. Jeder Pfarrer wird am digitalen Online-Klatsch teilnehmen müssen, wenn er die Sorgen und Nöte der Menschen verstehen will, denen er egal ob on- oder offline die frohe Botschaft weitergeben möchte.
  9. Lernfähig: Lebenslanges Lernen wird in allen Berufen wichtiger, je schneller sich die Umweltbedingungen verändern. Die Pfarrerin der Zukunft wird Zeit einplanen müssen, um sich fortzubilden (pro domo geredet, siehe http://www.ptz-stuttgart.de). Vielleicht wird man sie (siehe oben) dazu zwingen müssen, damit sie nicht vergisst, vor lauter Bäumen auch den Wald in den Blick zu nehmen.pfarrer-der-zukunft
  10. Lehrmeisterhaft: Die religiöse Sozialisation ist spürbar dabei, schwächer zu werden. Es können weniger Grundkenntnisse in Glaubensfragen vorausgesetzt werden als zu früheren Zeiten. Umso wichtiger wird es, lehren zu können, ohne belehrend zu wirken. Neugier an Bibel, Glauben und Tradition zu wecken. Weite Wege in den Schuhen der anderen mitzugehen, bevor sie mitkommen auf die Wege des Evangeliums. Aus dem erhobenen Zeigefinger muss ein wegweisender Finger werden oder noch besser ein Finger, der ein Fragezeichen in die Luft malt und gemeinsam Antworten sucht.
  11. Demonstrativ unperfekt: Was sich schon heute abzeichnet: Ecken und Kanten werden bei Pfarrern akzeptiert. Es ist für Pfarrer allemal besser, zuzugeben, dass man vergebungsbedürftiger Sünder ist wie jedermann, als nach außen eine Fassade aufzubauen, die jeder leicht durchschaut. Beim Abschied von meiner Gemeinde habe ich einen schönen Text vom perfekten Pfarrer zitiert, der psychohygienische Funktion für alle hat, die sich von Punkt eins bis zehn abgeschreckt fühlen. Er ist hier nachzulesen und endet mit dem schönen Satz: „Der perfekte Pfarrer wohnt immer in der Nachbargemeinde“. Ob der Pfarrer der Zukunft noch in einer Dienstwohnung wohnen wird, weiß ich nicht. Aber mit Sicherheit wird er ein Mensch wie ich und du sein, dem aufgegangen ist, dass Gott ihn liebt und dies der Grund seines Lebens ist.

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Die elf wichtigsten Eigenschaften des Pfarrers der Zukunft
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6 Kommentare zu „Die elf wichtigsten Eigenschaften des Pfarrers der Zukunft

  • 19. Mai 2018 um 22:36 Uhr
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    Vieles kann ich gut nachvollziehen, obwohl ich nicht Pfarrer bin. Manches ist mir noch zu sehr aus dem Binnenbereich “Kirche” heraus gedacht. Das “Herzlich” finde ich aber besonders zutreffend und auch wichtig. Aber es muss neben dem anderen Erwähnten m.E. noch mehr auch der Verstand angesprochen werden. Das klingt an in “übersetzend” und “lernfähig”. Pfarrer, Christen überhaupt müssten heute mehr denn je sich auch grundsätzlichen Fragen öffnen, auch grundsätzlichen kritischen Fragen an das Christentum, den Glauben, die Religion. Viele Menschen sind heute durchaus gut informiert über Grundfragen des naturwissenschaftlichen Weltbildes; über einen Planeten unter Milliarden von anderen Planeten; über eine Evolution alles Lebendigen, unsere Nähe in der Geschichte des Lebens zu den Tieren; über ein positivistisches Denken, das ohne große Thematisierung nur gelten lässt, was “bewiesen” ist; über das, was wir sozusagen aus der Natur mitbringen. Nicht zuletzt wissen viele auch nicht wenig, über die auch sehr menschliche Geschichte der Entstehung der Heiligen Schriften, über die Ernsthaftigkeit und Würde auch anderer Religionen und so fort. Das heißt, der Christ, die Pfarrerin muss auch etwas von dem haben, was in der frühen Kirche in der Auseinandersetzung mit dem antiken Weltbild leisteten – Kenntnis, gute Argumente, auch apologetisches Denken. Etwas provozierend ausgedrückt: Er sollte die Möglichkeit eines aufgeklärten Glaubens nicht empört zurückweisen …… Dies nur in Eile einem alten Gefährten aus den frühen Jahren einmal kurz in die Kommentare geschrieben . Wir entwickeln uns weiter, wobei ich Hans-Horst tatsächlich bewundere: Ich habe mich gefreut, zu welchen Thesen Du heute gekommen bist, trotz sicher etlicher tiefer Unterschiede zwischen uns, die sich bei mir natürlich auch in den Jahrzehnten herausgebildet haben.

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    • 22. Mai 2018 um 15:39 Uhr
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      Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. In der Tat ist die Auseinandersetzung mit der Moderne wichtig. Dafür brauchen wir ja auch das Studium, in der so manche platte Wahrheit hinterfragt wird und die Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen stattfinden soll. Da bin ich ganz der gleichen Meinung, auch wenn es manchmal Pfarrer/innen gibt, die meinen man müsste andere zum Zweifeln statt zum Glauben führen; aber die sind zum Glück seltener geworden. Beides gehört ohnehin in guter Balance zusammen.

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  • 19. November 2015 um 14:14 Uhr
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    Mit kleinen Abstrichen volle Zustimmung! D.O.

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  • 8. November 2015 um 14:08 Uhr
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    Sehr gute Gedanken. Würde fast überall Herzen oder wahlweise Sterne verteilen.

    Eingeschränkt gilt das für Punkt 4, da ich zustimme, dass ich trotz aller Unvollkommenheiten unserer Kirche immer noch für Sie und eine Mitgliedschaft werben kann. Sie ist aber in ihrer Form andererseits auch nicht alternativlos und insofern will ich mein Leben auch nicht für den Selbsterhalt einer bestimmten Form werben, die sich ggf. irgendwann selbst überholt. Oder auch nicht.

    Aber ansonsten klasse und volle Zustimmung.

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  • 7. November 2015 um 18:04 Uhr
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    In vielem stimme ich zu: Netzwerkarbeit, selbstgesteuertes Arbeiten, das Gottes spielen Raum gibt, und Lernfähigkeit werden sicher den Pfarrdienst der Zukunft prägen. Aber ist das auch das Pfarrbild, das den Erwartungen der Menschen gerecht wird? Welche Erwartungen haben die eigentlich? Welche Bilder vom Pfarramt? Es bleibt ja eine Diskussion, die binnenkirchklich und binnendienstlich geführt wird.

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    • 8. November 2015 um 10:16 Uhr
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      Ja, stimmt. Das ist binnenkirchlich gedacht und beschrieben. Aber ich bin überzeugt, dass Kirche nur dann attraktiv bleibt, wenn sie von innen her ausstrahlt. Die notwendigen Reformen müssen m. E. innen anfangen.

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