Transformative Ethik – Wege zur Liebe. Eine Sexualethik zum Selberdenken, Tobias Faix und Thorsten Dietz und Tobias Faix, 428 S., 30 Euro, Neukirchen-Vluyn 2025

Endlich ist in diesem Jahr der Fortsetzungsband der Transformativen Ethik (siehe meine Rezension) erschienen, die immerhin schon die dritte Auflage erreicht hat. Die Cliffhanger von Band 1 werden spannend fortgesetzt. In der Arena der Wir-Sie-Ungleichheiten (siehe dazu Triggerpunkte von Steffen Mau u.a.) wird heftig gekämpft, bei Fragen von Sex, Geschlecht, Gender und Lebensformen hat jede:r eine Meinung und ich kenne Leute, die schon ein Doppelpunkt mitten im Wort so aufregt, dass sie davon Schnappatmung bekommen.

Zum Ansatz

Thorsten Dietz und Tobias Faix verfolgen ihren Ansatz konsequent weiter. Sie gehen den Transformationen der Gegenwart nach bis hinein in viele kleine Verästelungen und schauen dabei sowohl nach der gelebten Wirklichkeit als auch nach sich wandelnden Normen und christlichen Werten: “Transformative Ethik heißt, dass wir diese Diskrepanz aufnehmen und wahrnehmen wollen, dass wir die Wirklichkeit in ihrem Wandel sowie die Menschen mit ihren Bedürfnissen verstehen wollen (Gebiet), ohne dass wir ethische Normen und christliche Werte (Karte) vernachlässigen.” (S. 24f)

Sie versichern und lösen auch ein: “Dabei bemühen wir uns, verschiedene Seiten möglichst stark darzustellen, auch jene, die wir selbst nicht vertreten.” (S. 18). Die Anregung “zum Selberdenken” ist nicht nur dadurch gegeben, sondern auch durch grau hinterlegte “Ethische Fragen zum Selberdenken” am Ende der Kapitel.

Das Buch ist entstanden vor dem Hintergrund heftiger Debatten um Sexismus, Me-too, sexualisierte Gewalt in den Kirchen sowie einer großen zwischen 2022 und 2025 durchgeführten empirischen Sexualitätsstudie mit durchaus überraschenden Ergebnissen (siehe http://www.sexualitätsstudie.de/ mit Überblick über die Ergebnisse, Direktlink https://www.cvjm-hochschule.de/fileadmin/2_Dokumente/5_FORSCHUNG/empirica/empirica_Sexualitaetsstudie-Forschungsbericht.pdf und https://www.cvjm-hochschule.de/fileadmin/2_Dokumente/5_FORSCHUNG/empirica/empirica_Sexualitaetsstudie_Zusammenfassung.pdf).

Geschlecht und Sexualität

Dietz und Faix unterscheiden begrifflich zwischen Geschlecht und Sexualität. “Geschlecht bezieht sich auf die geschlechtliche Identität eines Menschen, also darauf, als was sich ein Mensch geschlechtlich versteht bzw. von anderen verstanden wird, persönlich, sozial und rechtlich. Sexualität bezieht sich hingegen auf die Anziehung durch andere Menschen bzw. auf die Ausrichtung in einem sexuell-körperlichen oder seelisch-romantischen Sinn.” (S. 21f) Als Teil von “Geschlecht” sehen sie das soziale Geschlecht, das oft mit “Gender” wiedergegeben wird.

Biblische Ethik und Menschsein in Beziehungen

Ihre Sexualethik wollen die Autoren als biblische Ethik und Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen verstanden wissen. “Grundlegende biblische Prinzipien wie Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit (…) geben der transformativen Ethik Orientierung und Richtung bei den ethischen Entscheidungen in den gesellschaftlichen Spannungen. Transformative Ethik ist immer eine Liebesethik.” (S. 27)

Dabei wird ernst genommen, dass biblische Texte immer auslegungsbedürftig sind und hermeneutisch reflektiert werden müssen.  Aussagen, die in einem bestimmten zeitgeschichtlichen Kontext entstanden sind, kann man nicht wörtlich in eine veränderte Gegenwart übertragen. Gerade die detaillierte Auseinandersetzung mit vielen in der Debatte oft angeführten Bibeltexten ist eine Stärke dieses Buches. Gleichzeitig werden neue Fragestellungen wie Intersektionalität aufgegriffen.

Ein zweites grundlegendes Kapitel widmet sich dem Menschsein in Beziehungen und versucht Grundlinien herauszuarbeiten, etwa die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Hier wird auch Wert gelegt auf das Thema Vulnerabilität als menschliche Ressource, das im Bereich der Sexualethik eine besondere Rolle spielt.

Dabei geht es auch um die Frage von Liebe und Sünde. Im Horizont der Rechtfertigungstheologie betonen beide den Vorrang der Liebe (S. 87) und formulieren sehr schön: “Das Konzept der Sünde geht immer von einem Gotteshorizont aus und zwar so, dass der Mensch nicht moralistisch auf Schuld und Scheitern festgelegt wird, sondern so, dass die christliche Sicht des Menschen nicht klein, sondern groß von ihm denkt, sodass Sünde das Zurückbleiben hinter der hohen Bestimmung des Menschen ist.” (S. 88). In diesem Sinne formulieren sie vier Schwerpunkte einer anthropologischen Grundhaltung im Kontext von Geschlecht und Sexualität: Vulnerabilität, Ganzheit, Offenheit und Transformation. Dies grenzt sich deutlich von einer schuld- und angstbesetzten Konzeption ab, die in der Christentumsgeschichte lange Zeit vorherrschend war.

Einzelthemen

Richtig spannend wurde für mich die Lektüre ab Kapitel drei, wo es um die heißt diskutierten Themen der Gegenwart geht, nicht nur im christlichen Kontext. Gegliedert ist dies nach Gender/Geschlecht (Kap. 3), Sexualität (Kap. 4) und Lebensformen (Kap. 5).

Beim Verhältnis von Mann und Frau werden zwei grundlegende Formen unterschieden: “Komplementarismus lässt sich auf die Kurzformel bringen: Mann und Frau sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Egalitarismus lässt sich auf eine ähnlich knappe Formel bringen: Mann und Frau sind gleichberechtigt und vielfältig.” (S. 97) Unumwunden geben die Autoren zu, auf der Seite des egalitären Geschlechterverständnisses zu stehen.

Ausführlich wird das patriarchalische Denken in der Antike, das hierarchische Geschlechterdenken im Alten Testament sowie die Weiterentwicklung im Neuen erörtert, aber auch schon einzelne egalitäre Impulse erwähnt wie sie in Joel 3,1-2 oder Gal. 3,28 zum Ausdruck kommen.

Spannend sind Beobachtungen wie die, dass Ansichten, die heute als traditionelle Lehre verteidigt werden, selbst erst relativ spät entstanden sind. So stellen die Verfasser fest: “Am Ende unseres geschichtlichen Durchgangs können wir eine Sache sehr klar einschätzen. Das Komplementaritätsdenken, wie es vom Lehramt der katholischen Kirche und vielen konservativen Evangelikalen vertreten wird, ist selbst ein Produkt der Moderne.” (S. 116)

Ausführlich wird die Frage erörtert, wie es sich mit dem biologischen Geschlecht verhält, bei dem es mindestens vier Ebenen gibt, die chromosomale Ebene, die gonadale Ebene (Hoden bzw. Eierstöcke), die hormonelle Ebene und die anatomische Ebene. Nur bei den Gameten (Keimzellen) gibt es eine “strikt binäre Aufteilung im Sinne eines ausschließlichen Entweder / Oder” (S. 120). Sonst lässt sich ein Spektrum mit vielfältigen Zwischenstufen feststellen.

Ausführlich wird bei den Gender-Perspektiven Judith Butlers Ansatz diskutiert sowie die Politik des Gender-Mainstreamings. Ungewöhnlich und positiv hervorzuheben, dass es dabei auch einen Abschnitt (3.4.3) über Gleichberechtigung in der DDR gibt.

Bei den Fragen zu trans und non-binären Geschlechtsidentitäten plädieren die Autoren für “wachsende Toleranz in der Gesellschaft, was Abweichungen von vermeintlichen Idealen von Geschlechterrollen und -ausdruck betrifft.” (S. 167) Hier und an anderen Stellen hilft der authentische Bericht einer trans Person, in das Thema hineinzufinden.

In Fragen der Sexualität gibt es wieder schöne Überblicke über geschichtliche Linien und eine Betonung der romantischen Revolution (ab 1770 n. Chr.) und der sexuellen Revolution (ab 1960), die prägend wurden für unser heutiges Verständnis. Dazu gehört auch die Idee der Liebesheirat, nach der die wechselseitige Liebe die zentrale Voraussetzung einer Lebensgemeinschaft auf Lebenszeit sein muss. (S. 205)

In Fragen der Sexualethik werden drei Grundtypen skizziert, die Ordnungsethik, die Verhandlungsmoral und die Beziehungs- bzw. Leitbildethik, die aus Verfassersicht die angemessenste Perspektive darstellt. In diesem Ansatz geht es um Beziehungswerte wie Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit und ein Leitbild gelingender Ehen und Familien.

Bei der historischen und gegenwärtigen Beurteilung der Homosexualität wird klar die Schuld von Kirche und Theologie an gleichgeschlechtlich liebenden Menschen betont (S. 216). Für die geschichtliche Betrachtung wird deutlich, dass es in der Regel anders als heute um asymmetrische Beziehungen ging und außerdem die stabile Veranlagung zur Homosexualiät nicht gesehen wurde: “Weder in der Antike noch im Mittelalter taucht für die ethische Bewertung die Frage einer konstitutiven Veranlagung gleichgeschlechtlichen Begehrens auf.” Ausführlich werden die einschlägigen biblischen Texte diskutiert wie Röm. 1,18-31. und die Autoren schließen sich der Mehrheitsmeinung heutiger wissenschaftlicher Theologie an, “dass konkrete biblische Gebotstexte oder Lasterkataloge nicht direkt  auf heutige Fragen bezogen werden können.” (S. 232) Offen angesprochen wird auch das Thema Bisexualität und Asexualität, letztere soll ca. 1% der Menschen weltweit betreffen und wird erst neuerdings wissenschaftlich als sexuelle Orientierung anerkannt.

Bei der Bewertung von Prosititution, Sexarbeit und Sexkauf ist eine vorsichtig sich öffnende Haltung festzustellen, die sich auch auf Jesu ungewöhnlich furchtlosen Umgang mit Prostituierten (Mt. 21,31) berufen kann. Obwohl die Autoren betonen, dass die Unterscheidung von freiwilliger und erzwungener Prostitution schwer zu treffen ist, beginnt doch eine Pro- und Kontra-Auflistung überraschenderweise mit den Pro-Argumenten.

Sehr aktuell und ausführlich sind die Ausführungen zu sexualisierter Gewalt, deren Aufarbeitung in der Kirche noch längst nicht abgeschlossen ist und die mit Sicherheit eine Daueraufgabe für die Zukunft darstellt. Systemische Gründe begünstigen sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche und den Freikirchen deren Vorkommen (S. 262-267). Hier brechen die Autoren eine Lanze für die moderne Sexualethik: “Moderne Sexualethik mit ihrer Betonung sexueller Selbstbestimmung hat sexualisierte Gewalt überhaupt erst als schweres Unrecht sichtbar gemacht. Im Rahmen unseres ethischen Entwurfs ist dies einer der entscheidenden Gründe, der in manchen Strömungen der in Kirchen üblichen Verleumdung moderner Sexualmoral entschieden zu widersprechen.” (S. 267) Es ist darauf zu achten, dass die christliche Lehre von Versöhnung und Rechtfertigung nicht zu einer Täterzentrierung führt und die Perspektive und Rechte der Opfer dadurch unter die Räder kommen. (S. 269)

Überraschend aktuell sind auch die Ausführungen zu Sexualität im digitalen Raum, wo Fragen von Cybersex und Sexrobotik diskutiert werden und auch das Thema Pornographie in den Blick kommt. Letztere wird differenzierter bewertet als oft üblich, aber gleichzeitig werden sehr deutlich ihre Gefahren für Konsumierende und vor der Kamera Agierende benannt.

Beim Thema Lebensformen wird neueren Vorstellungen folgend, dass Ehe und Familie zwar eine enge Verbindung haben können, aber getrennt voneinander zu betrachten sind (S. 302). Ausführlich wird die wechselhafte biblische und kirchengeschichtliche Entwicklung dargestellt bis hin zur heutigen Pluralisierung der Lebensformen. Resümierend formulieren die Verfasser: “Es führt kein Weg zurück zu arrangierten und von Familienoberhäuptern abgestimmten Eheschließungen der alten Welt. Und die historisch immer noch recht jungen Ansprüche der Romantik, eine Beziehung nicht einzugehen ohne das wechselseitige Gefühl ganzheitlicher Anziehung, veränder die Logik partnerschaftlichen (sic!) Beziehungen sehr grundsätzlich.” … “Es gibt ein Leben in Orientierung an der Bibel, das auch auf neuen Wegen Halt findet an alten Weisungen. Wechselseitige Liebe, Rücksicht und Vergebungsbereitschaft, Ehrlichkeit und Treue – all das sind Werte, die den Test von Jahrtausenden bestanden haben.” (S. 319)

Auch der Lebensform Single und der Polyamorie ist ein längerer Abschnitt gewidmet. Aktuell schlägt ja eine Segnung von vier polyamor verbundenen Männern durch eine Pfarrerin größere Wellen schlägt (https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/250051/27-11-2025).

Konfliktmanagement

Richtig spannend fand ich noch einmal das sechste Kapitel. Denn die aufgeführten Themen sind ja tatsächlich heißt diskutierte Trigger-Themen, die auch auf einer emotionalen Ebene tief berühren, je nach dem wie man selbst orientiert ist und ob jemand im persönlichen Umfeld Menschen mit ungewöhnlichen sexuellen Orientierungen und Lebensformen vorkommen. Viele Kirchen und Gemeinden, aktuell auch wieder die württembergische Landeskirche vor und sicherlich auch nach den Kirchenwahlen vom 30.11.2025, streiten heftig über solche Themen, es gibt Kirchenaustritte, die weltweite anglikanische Kirche ist deswegen nach wie vor von Spaltung bedroht (https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2025-10/anglikaner-kirche-christen-spaltung-streit-mullally-afrika.html).

Hier präsentieren Faix und Dietz drei dialogische Lösungsmodelle für moralische Konflikte in Gruppen und Gemeinden. Zunächst das Lösungsmodell der versöhnten Verschiedenheit, dann das Modell von “Good Disagreement”, das die schmerzhafte Differenz ausdrücklich feststellt und sie bestehen lässt, schließlich das Modell eines “protestantischen Korridors”. In diesem Modell wird betont, dass nicht alles toleriert werden kann und die Vielfalt auch unverhandelbare Grenzen hat. Und wenn keine Form von Konfliktbearbeitung, möglichst mit methodischem Handwerkszeug durchgeführt, gelingt, gibt es immer noch als letzten Weg die versöhnte Trennung, die die Möglichkeit einer späteren Wiederannäherung offen hält.

Fazit

Thorsten Dietz und Tobias Faix ist es gelungen, einen Rundumschlag zum Thema christliche Sexualethik vorzulegen, der extrem spannend zu lesen ist, weil er viele Grundannahmen auf den Prüfstand stellt und mit modernen Anfragen konfrontiert. Dabei gelingt es ihnen gleichzeitig Einzelfragen sensibel und offen zu diskutieren und die große Linie im Blick zu behalten in einem Feld, das ständigen Veränderungen unterworfen ist. Ich habe das Buch mit großem inhaltlichem Gewinn gelesen und gleichzeitig für meine Arbeit in der Gemeinde davon profitiert. Durch die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, in den Kirchen, die verpflichtenden Schulungen von Haupt- und Ehrenamtlichen, die Verpflichtung für die Jugendarbeit und die starke Ermutigung für die ganze Gemeinde ein Schutzkonzept zu erstellen (siehe für Württemberg https://www.elk-wue.de/helfen/sexualisierte-gewalt/praevention) ist das Thema gesetzt und wichtiger denn je, um bei Kirchenmitgliedern und in der ganzen Gesellschaft Vertrauen zurückzugewinnen. Die vorgelegte transformative Sexualethik kann da einen wesentlichen Beitrag leisten.

Für Podcast-Fans

Beim Reflab Podcast Festival in Zürich (https://reflab-festival.ch/) trafen sich Thorsten Dietz und Tobias Faix zu einem Live-Gespräch mit Lea Rigo und Jonas Simmerlein vor Publikum, das man hier nachhören kann:

Karte und Gebiet meets Liebesäpfel – Folge 51: https://podcasters.spotify.com/pod/show/karte-und-gebiet/episodes/Karte-und-Gebiet-meets-Liebespfel—Folge-51-e39a2j4

Corrigenda

Rechtschreib- und Satzfehler finden sich im Buch leider nicht wenige, die ich auf Anfrage für eine hoffentlich bald erscheinende zweite Auflage gerne zur Verfügung stelle. Auf. S. 219 sollten mindestens die irreführenden justianischen Reformen zu justinianischen korrigiert werden.

 

Rezension “Wege zur Liebe – Eine Sexualethik zum Selberdenken
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