Hier meine Rezension von: Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt (Hg.), Jugend heute. Zwischen Leistungsdruck und virtueller Freiheit
(206 Seiten, 19,90 Euro)
Sammelbände sind manchmal ein Graus: Oft werden Texte untergebracht, für die sich als Monographie niemand interessieren würde, abseitige Themen und Fragestellungen. Dieser hingegen ist ein Genuss. Obwohl ich zum Thema Jugend schon vieles gelesen habe, waren mir zahlreiche Fakten und Perspektiven neu. Vermutlich liegt es daran, dass die meisten Texte aus Vorträgen entstanden sind, die beim 12. Bonner Symposium zur Psychotherapie vor Fachpublikum gehalten wurden. Damals lautete der Untertitel noch etwas griffiger „‚Jugend heute‘ im Spagat zwischen Web 2.0. und Abi 1.0.“.
Der Blick der Fachleute mit psychologischem oder sozialwissenschaftlichem Hintergrund auf heutige Jugendliche ergänzt und vertieft das Bild, das Jugendstudien meist aus Sicht der Jugendlichen zeichnen. Heiner Keupp beschreibt anschaulich die Normalitätskrise unserer spätmodernen Gesellschaft, in der gar nicht mehr klar ist, was als normales Erwachsensein zu gelten hat. Ein extremer Wertewandel von der Maxime Selbst-Kontrolle über Selbst-Verwirklichung hin zum neuen Leitbild Selbst-Management hat stattgefunden und stellt Jugendliche wie Erwachsene vor große Herausforderungen (S. 27-29). Entsprechend wollen Jugendliche, wie Jürgen Junglas darstellt, heute mehr Partizipation als früher und haben auch rechtmäßigen Anspruch darauf. So gilt zwischen Eltern und Kindern eine wechselseitige Beistands- und Rücksichtspflicht (BGB §1619). In Fragen der Erziehung sollen Eltern die wachsenden Fähigkeiten ihrer Kinder zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen und bei Fragen der elterlichen Sorge nach einer Besprechung mit ihrem Kind Einvernehmen anstreben (BGB §1626 Abs. 2).
Klaus Fröhlich-Gildhoff stellt vor, wie sich die Resilienz von Jugendlichen stärken lässt, also die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber starken Entwicklungsrisiken und psychischen Belastungen. Das Vorhandensein stabiler und wertschätzender Beziehungen zeigt sich hier als stärkster Schutzfaktor, auch das Erfahren von Sinn und das Wissen um die Bedeutung der eigenen Existenz im Rahmen eines persönlichen Glaubens trägt zur Resilienz bei (S. 64f).
Erfreulich nüchtern und wenig alarmistisch sind die Beiträge zur Mediennutzung Jugendlicher und zu sozialen Netzwerken. Statt eine drohende digitale Demenz heraufzubeschwören wird nüchtern abgewogen und es werden auch die Chancen beschrieben, die das Internet bietet. Unter fachkundiger psychotherapeutischer Anleitung kann man durchaus auch online wertvolle positive Rückmeldung erhalten und lernen, aus virtuellen Freundschaften echte Freundschaften zu machen (S. 116f). Facebook-Fans werden Sätze wie diesen gern lesen, der sich gegen die Pathologisierung intensiver Internetnutzung wendet: „Insbesondere ist dabei noch zu berücksichtigen, dass die Hauptnutzung des Internets durch Jugendliche insbesondere in der Pflege sozialer Kontakte (via sozialer Online-Netzwerke) besteht, und kontaktbezogenes soziales Verhalten als ‚Sucht‘ zu bezeichnen erscheint wenig sinnvoll.“ (S. 115)
Gut gefallen hat mir auch die übersichtliche Darstellung der Theorie psychischer Grundbedürfnisse im Jugendalter durch Michael Borg-Laufs als da wären: Bindung, Orientierung/Kontrolle, Selbstwertschutz/Selbstwerterhöhung sowie Lustgewinn/Unlustvermeidung. Wenn es gelingen würde, in unserer Arbeit mit Jugendlichen diese vier zu berücksichtigen, wäre viel gewonnen! Auch die Erfahrungen der Psychotherapeutin Silke Birgitta Gahleitner im Umgang mit schwer erreichbaren, traumatisierten Jugendlichen sind anregend und ermutigen, Kontakt zu professioneller psychotherapeutischer Hilfe aufzunehmen und zu vermitteln, wo nötig.
Fazit: Ein Sammelband, den man gerne liest und guten Gewissens seiner Buchsammlung einverleiben kann.
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