Darauf habe ich mit großer Spannung gewartet: Gerd Theißen, emeritierter Professor für Neues Testament und einer meiner Lieblings-Lehrer in Heidelberg, hat einen neuen Roman vorgelegt. Vielleicht ist Roman nicht ganz das richtige Wort für diese Art der Erzählung, korrekt müsste man wohl sagen: historische Paulusforschung in erzählender Form. Schon Theißens erstes Buch dieser Art war ein sensationelles Buch: Der Schatten des Galiläers. Wer es noch nicht gelesen hat, sollte es dringend nachholen. Es war und ist ein Best- und Longseller, Generation von Schülern haben im Religionsunterricht mindestens Ausschnitte davon zu lesen bekommen.

Was bei Theißens Büchern immer spannend ist: die Gegenwart prägt die historische Erzählung mit und bietet damit viele Ansatzpunkte, die Bibel neu zu lesen. Insofern ist es ein Musterbeispiel einer offenen Bibeldidaktik, wie er sie selbst sieht (siehe  Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, http://d-nb.info/965916103).

Die Geschichte spielt am Ende des Lebens von Paulus in Rom. Anschaulich wird die religiöse Gemengelage zwischen römisch-heidnischer Religiosität und Philosophie und den verschiedenen Richtungen des Judentums, zu denen ja auch das Christentum zählte, geschildert. Der junge Rechtsanwalt Erasmus steht am Anfang seiner Karriere. Er hat schon einen heiklen jüdischen Religionsfall erfolgreich vor Gericht durchgezogen, jetzt wird er angefragt, ob er die Verteidigung des römischen Bürgers Paulus übernehmen könne. Er will kein Risiko eingehen und informiert sich gründlich, bevor er zusagt. Denn Paulus ist ein Mann mit einer schillernden Vergangenheit. Es kursieren Texte von ihm, die radikal klingen, Spaltung verursachen und den Römern nicht ins Konzept passen.

Hineinverwoben in diese Kriminalgeschichte ist eine berührende interreligiöse Liebesgeschichte. Hannah aus jüdischem Hause interessiert sich für die christliche Richtung – und für Erasmus. Auch Erasmus sympathisiert als Stoiker mit dem Judentum und könnte sich als Christ sogar die Beschneidung sparen, wenn er Hannah heiraten würde.

Spannung kommt auf, als Erasmus Drohbriefe bekommt und in Rom 400 Sklaven hingerichtet werden sollen, was seinen Haussklaven Tertius sehr mitnimmt. Die Liebesgeschichte endet tragisch, in Rom brennt so manches an und ab. Nero lässt grüßen.

Meisterhaft gelingt es Theißen, den aktuellen Stand der Wissenschaft, mit Fußnoten und Literaturhinweisen gut belegt, anschaulich darzustellen. Aussagen, die man aus der Bibel kennt, werden plötzlich lebendig, man versteht, wie die Theologie des Paulus sich parallel zu seinem Leben entwickelt hat. Auch philosophisch ist das Buch als Einführung in die Antike Philosophie ein Leckerbissen. Zahlreiche Briefe machen das Buch fast zu einem Briefroman. Mir hätten ein paar Briefe weniger gereicht, obwohl sie natürlich den Geist des ebenfalls empfehlenswerten kritischen Katechismus von Theißen atmen und sich von dort manchen Gedankengang und Formulierung leihen.

Kein Buch ohne Schwächen: Der Zeitsprung am Ende hat mich nicht ganz überzeugt. Da spürt man die Absicht des Autors, noch etwas mehr Historie unterzubringen. Das Leben von Erasmus dazwischen bleibt blass und macht ihn nachträglich vom Protagonisten wieder zur Fußnote der Historie. Auch zwischendurch hat man an manchen Stellen das Gefühl, dass die Geschichte die Menge der Informationen aus der Umwelt des Neuen Testaments fast nicht zu tragen vermag.

Welche aktuellen Themen hat Theißen verarbeitet? Als Stichworte nenne ich: interreligiöses Zusammenleben, Terrorismus, Friedensfähigkeit von Religionen, das Verhältnis von Theologie und Philosophie, Formen des Zusammenlebens in der Ehe einschließlich Homosexualität sowie nicht zu vergessen: Bildung und Karrieremöglichkeiten von Frauen und – natürlich auf einer anderen Ebene – Menschen aus bildungsfernen Schichten, die heute zum Glück keine Sklaven oder Freigelassenen mehr sind.

Für wen ist das Buch geeignet: Ich hatte gehofft, dass man es schon Konfis oder Konfirmierten zum Lesen geben kann. Mag sein, dass es Latein lernende Rom-Fans gibt, die schon in diesem Alter mit dem “Anwalt des Paulus” auf ihre Kosten kommen.  Ich würde eher an Jugendliche ab etwa 16 Jahren denken und natürlich an alle, die ein gut verständliches Buch zu Paulus und seiner Jesus-Gnaden-Botschaft suchen, das leider ein paar unnötige unerklärte Fremdwörter enthält – Glossolalie lässt grüßen.

Das Buch ist alles in allem wieder einmal genial geschrieben, absolut empfehlenswert, extrem lehrreich. Ich bin mir sicher, dass es wieder ein Klassiker werden wird – sicher nicht nur für den Religionsunterricht.

Weiterführende Hinweise


Wie gefällt Euch das Buch? Freue mich über weitere Meinungen unten in den Kommentaren.

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Rezension “Der Anwalt des Paulus”
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4 Kommentare zu „Rezension “Der Anwalt des Paulus”

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