Ich bin ein großer Freund der Digitalisierung. #digitalekirche macht mir keine Angst, sondern ist für mich eine Notwendigkeit und oft bitter vermisste Selbstverständlichkeit. Joachim Stängle kenne ich gut, schließlich haben wir zweimal zusammen das Barcamp Kirche online in Köln besucht. Dort hat er seine These in einer Session vorgetragen, in der es um das Digitalisierungsprojekt der Württembergischen Landeskirche ging: “Digitalisierung ist die (voraussichtlich) letzte Chance der Volkskirche”. Sie hat mich schon damals zum Widerspruch gereizt.

Ausführlich begründet hat er sie in seinem lesenswerten Artikel im Magazin der “Lebendigen Gemeinde”. Für Nicht-Württemberger: Die Lebendige Gemeinde ist ein Gesprächskreis der Landessynode (vgl. https://www.elk-wue.de/wir/landessynode/gespraechskreise/) und  hat derzeit mit 43,88 % die relative Mehrheit im Kirchenparlament. Wofür sie steht, kann man hier nachlesen: https://www.elk-wue.de/wir/landessynode/gespraechskreise/lebendige-gemeinde/.

Der Artikel ist im Oktober-Heft des Magazins der lebendigen Gemeinde abgedruckt: https://lebendige-gemeinde.de/download/1678/ Dieser Artikel hat es (in Auszügen) auch auf die Homepage der Landeskirche geschafft: https://www.elk-wue.de/news/26102018-lernen-neu-zu-denken/ Auf seiner eigenen Homepage steht der Artikel hier einzeln zum Download: https://staengle-consulting.de/veroeffentlichungen/

Meine Argumente

  1. Viele – gerade fromme Kreise – sehen Digitalisierung gern als Chance, die Menschen noch besser als bisher zu erreichen. Aber zuerst einmal trägt die Digitalisierung zur Krise der Volkskirche bei. Menschen verbringen mehr Zeit online, können Sonderinteressen besser verfolgen und sich weltweit mit Gleichgesinnten vernetzen. Das ist nicht gerade eine Chance für eine Volkskirche, die weitgehend parochial strukturiert ist, also in kleinen lokalen Kirchengemeinden, zwischen denen immer noch eine Erlaubnis aka “Dimissoriale” per Post hin und hergeschickt wird, wenn ein Gemeindeglied es wagt, die Parochiegrenzen zu übertreten. Digitalisierung könnte der disruptive Endgegner der Volkskirche sein, dessen Umarmung zur Beschleunigung der Krise führt.
  2. Die Volkskirche ist kein Wert an sich und taucht bei Jesus nirgendwo auf. Zur “Volkskirche” sind viele und schlaue Dinge geschrieben worden. Sie war einmal ein hilfreicher, aber durchaus auch völkisch interpretierbarer Begriff beim Übergang von der Landeskirche mit dem Landesherrn als Notbischof (m. E. träumen manche heute immer noch von diesen Zeiten) hin zu einer staatsfreien Kirche, die selbstbewusst ihre eigenen Wege geht (Vgl. Otto Dibelius 1926, Das Jahrhundert der Kirche). Dieses Jahrhundert, das 1918 begann, ist 2018 endgültig vorbei. Dass “Landeskirchen” die Volkskirche retten wollen, scheint verständlich, das heißt aber noch lange nicht, dass das geistlich geboten ist und Gott gefällt. Das derzeitige Schicksal der “Volksparteien” könnte ein Menetekel für das Schicksal der Volkskirche sein. Glaubwürdigkeit und Größe einer Institution stehen im Zeitalter der Digitalisierung oft in einem umgekehrt reziproken Verhältnis zueinander. Das heißt nicht, dass man den Niedergang der Volkskirche beschleunigen sollte. Es heißt aber, dass wir nach dem Jahrhundert der Volkskirche neue Zielperspektiven brauchen in einem Transformationsprozess, den alle spüren, aber nicht alle wahrhaben wollen.
  3. Kundenorientierung hilft nichts, wenn andere das bessere Angebot haben und vielen der virtuelle Raum reicht. Digitalisierung zwingt uns, die Bedürfnisse der Zielgruppe(n) in den Blick zu nehmen. Wohl wahr. Sie zwingt uns zur Kundenorientierung. Wenn das nächste Angebot nur eine Google- oder DuckDuckGo-Suche weit entfernt ist, müssen sich alle mehr anstrengen. Aber noch immer stellen sich viele die Digitalisierung der Kirche so vor, dass man im digitalen Raum mehr Werbung macht, damit dann im realen Raum mehr Leute versammelt sind. Aber so wird das nicht funktionieren. Das bessere Angebot muss heute nicht mehr kohlenstofflich sein. Vielen reicht für die Sinnkommunikation längst der virtuelle Raum – neben den Begegnungen im Arbeitsalltag und der Familie. Da kann man längst Petitionen unterschreiben und mit dem Hashtag #ichbinhier Hass bekämpfen. Da kann am Facebook und Twitter liken und geflauscht werden. Aber dieser virtuelle Raum hat seine eigenen, durchaus Angst machenden Gesetze. Hier setzt sich leider nicht immer Rationalität und bodenständige Frömmigkeit durch, sondern alles, was neu, laut, schrill und irgendwie ungewöhnlich ist. Volkskirche als das, was es schon immer gab, hat es da naturgemäß schwer.
  4. Digitalisierung heißt auch künstliche Intelligenz. Digitalisierung ist mehr als vereinfachte Kommunikation und bessere Rechenleistung. Die spannendsten Entwicklungen finden gerade im Bereich der künstlichen Intelligenz statt. Der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, in dem eine künstliche Intelligenz der menschlichen in allen Bereichen überlegen sein wird. Spätestens dann wird sich die Frage stellen, ob wir Gott mehr vertrauen oder einer künstlichen Intelligenz, die uns durchs Leben leitet. Schon heute gibt es Propheten, die dem “Dataismus” eine große Zukunft voraussagen (vgl. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-04/homo-deus-yuval-noah-harari-buchkritik). Unten ein Video mit einem Interview von Max Tegmark zu seinem spannenden Buch “Leben 3.0”, das ich nur empfehlen kann.
  5. Das Überleben der Kirche (“letze Chance”) und ihre Rettung kann immer nur vom Herrn der Kirche kommen. Das gilt auch für die Volkskirche. Die Überschrift des Artikels von Joachim Stängle dient sicher der Verbreitung der Botschaft, dass die Kirche in Sachen Digitalisierung Nachholbedarf hat. Gleichzeitig ist sie aber auch ein schönes Beispiel für erfolgreiches Clickbaiting.  Die These provoziert Widerspruch und hat diesen verdient. Vielleicht ist die Zukunft der Kirche ja wirklich analog und kohlenstofflich. Vielleicht braucht die digitale Gesellschaft eine Vor-Ort-Alternative. Vielleicht haben die konservativen Vertreter der Face-to-Face-These recht, das christliche Gemeinschaft nur dann echt ist, wenn man in harten Kirchenbänken sitzt, über gedruckte Bibeln gebeugt ist und dabei in schlecht geheizten Gemeindehäusern Tee aus Thermoskannen trinkt. Vielleicht wirkt Gott wirklich so. Vielleicht ist Glokalisierung die letzte Chance der Volkskirche – der Wunsch, in einer globalisierten, vielfältigen Welt noch Gefühle von Heimat zu erleben. Oder immerhin die Rettung einer sichtbaren Überzeugungskirche als heiliger Rest der Volkskirche und gut erkennbare Stadt auf dem Berg  – würde ja auch schon reichen …
    Ich will das nicht ausschließen. Schon viele Trends haben nur so lange gedauert, bis der Gegentrend kam. Facebook und Co. spüren das gerade sehr deutlich. Öffentlich digital sozial wollen gerade immer weniger Menschen sein. Der Rückzug ins Private, in WhatsApp und SnapChat, in kurzatmige Storys weg vom langen Datengedächtnis der Datenkraken hat längst schon begonnen. Authentizität erlebt man immer noch am ehesten im persönlichen Gespräch. Vielleicht merken das irgendwann auch die Digitalisierungs-Propheten.
  6. Das eine tun und das andere nicht lassen. Meine kritischen Einwände sollen bitte nicht missverstanden werden. Die Kirche hat bei der Digitalisierung Nachholbedarf. Die Möglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft. Digitales Gesangbuch und eine App für Konfis und Jugendliche sind überfällig. Beamereinsatz im Gottesdienst und Twitterwalls – immer her damit. Gut gemachte Hompages sind Pflicht, interaktive Blogs die Kür. Social-Media-Präsenzen müssen sein.
    Nur die “Rettung” sollten wir uns davon nicht versprechen. Das sind Mosaiksteinchen für ein bunteres, hierarchiefreieres und diskussionsfreudigeres Bild von Kirche. Ein schönes Gemeindefest, ein liebevoll gestalteter Gemeindebrief, ein informativer Schaukasten und der Wohnsitz der Pfarrerin im Dorf, auch wenn es klein ist, sind mindestens genauso bunt und wichtig. Sonst verliert die Volkskirche ihren immer noch erstaunlich stabilen Wurzelgrund.

Video

Max Tegmark im Interview mit seiner Frau:

Diskussion

immer gerne, hier im Blog bei den Kommentaren unten oder sonstwo in den Weiten des Netzes. Ich bin gespannt, ob und welche Reaktionen es gibt.

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Ist Digitalisierung wirklich die letzte Chance der Volkskirche? – 6 Argumente, warum man das differenziert sehen sollte
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2 Kommentare zu „Ist Digitalisierung wirklich die letzte Chance der Volkskirche? – 6 Argumente, warum man das differenziert sehen sollte

  • 30. Oktober 2018 um 19:14 Uhr
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    Vielen Dank für die differenzierten Argumente, nachdenkenswert. Mein Eindruck des Digitalisierungs-Mantras, das grade von der EKD in die Landeskirchen gespült wird: sie hat den cultural turn der Digitaliserung nicht verstanden, auch digital bleibt sie Top-Down. Dabei haben wir Partizipation aller schon seit Pfingsten als Fundament unserer Institution, Karl Barth hatte das in seinem “kein Amt über dem anderen” der BE erinnert.
    Ich komm aus der Gemeindeerneuerungsbewegung, uns war in den 80ern schon klar, dass die Volkskirche am Ende ist – nur dass sie von der SPD und dem HSV als sterbende Institution auf den letzten Metern noch überholt wird, ist etwas überraschend. Digitale Kosmetik wird da nicht helfen, Social Media zum neuen Goldenen Kalb zu erklären, um die Ressourcen unauffällig aus den Vor-Ort-Netzwerken abzuziehen, auch nicht. Mal bei Luhmann zu Massenmedien nachschlagen, hätte uns schlauer gemacht. Netzwerke bilden sich digital ab. Wo keine mehr geknüpft werden, bildet sich auch mit dem schicksten Webdesign nix. Und das gelingt den großkirchlichen Kanälen schlechter als meiner Lieblings-Tauchbasis, siehe Reichweite diverser Landeskirchen des Facebook-Bischofs oder der EKD-Jana. Eine Konfi-App brauchen wir nicht, die haben weder Platz noch Lust dazu. Aber Whatsapp ist ein unverzichtbares Instrument. Leider ein verbotener Apfel im EKD-Digitalparadies.
    Glokal ist ein zukunftsträchtiges Stichwort, ich denke kleine Communitys wie Hausgemeinden werden die Säkularisierung überleben und sich weltweit vernetzen, wie es der Leib Christi schon immer getan hat. Wenn wir uns nicht vom Haupt trennen, haben wir auch gute Überlebenschancen.

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    • 30. Oktober 2018 um 19:21 Uhr
      Permalink

      Vielen Dank für die Anmerkungen, da scheinen wir in vielen Fragen auf einer ähnlichen Wellenlänge zu liegen. Bei der App für Konfis muss ich natürlich anderer Meinung sein, schließlich entwickle ich die mit und hatte die Idee dafür. Die Kosten sind Peanuts im Vergleich zu anderen Projekten und ein Versuch ist es allemal wert. Bei WhatsApp bin ich leider anderer Meinung. Facebook genießt bei mir nach all den Skandalen kein Vertrauen mehr. Leider verhindert im Moment der Netzwerkeffekt, dass wir davon loskommen. Aber jede Nachricht über Signal oder SimsMe oder Threema ist ein wichtiges Zeichen, dass wir nicht alles mit uns machen lassen.

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