Sabrina Hoppe, Der Protestantismus als Forum und Faktor. Sozialethische Netzwerke im Protestantismus der frühen Bundesrepublik, Mohr Siebeck Tübingen 2019, 435 Seiten, 79 Euro.

 


Die digitale Kirche lebt und tauscht sich auf Twitter fröhlich aus (#digitalekirche). Dass dort keinesfalls nur Leute unterwegs sind, die zu viel Zeit und nichts zu sagen haben, sieht man an Leuten wie Sabrina Hoppe. Beim Durchscrollen meiner Twitter-Timeline bin ich auf diesen Tweet gestoßen und habe spontan eine Rezension angeboten, weiß ich doch, wie selten man eine Rezension für ein solches Buch bekommt, in das man so viel Lebenszeit investiert hat. Außerdem war es der Verlag, in dem auch meine Dissertation über Jean-Paul Sartres Freiheitslehre erschienen ist; und das Thema klang vielversprechend, habe ich mich doch seit einer Hausarbeit über die Enzyklika “Mit brennender Sorge” (die ich damals zu Beginn der html-Euphorie auf eine Plattform ins Netz gestellt habe und die dort noch immer steht und es ohne mein Zutun bis in den Wikipedia-Artikel geschafft hat [vgl. diese Version von 2003 mit der heutigen Version des Artikels 🙂 ])  immer wieder auch gern mit neuer und neuester Kirchengeschichte beschäftigt.

So habe ich versucht, ob man bei diesem gefühlt traditionellsten und wertigsten aller theologischen Verlage (siehe Homepage https://www.mohrsiebeck.com ) auch ein Exemplar bekommt, wenn man “nur” online rezensiert. Und tatsächlich, es hat geklappt: Obwohl auf meine Email keine Antwort kam, lag einige Tage später das Buch in meinem Briefkasten. Geht doch. Verlage haben schon länger den Wert von Buchbloggern entdeckt, manche pflegen sie sogar aktiv. Letztes Jahr gab es m. W. zum ersten Mal im Rahmen des Barcamps Kirche online in Köln ein Theo-Bloggertreffen, das dieses Jahr wiederholt wird ( https://barcamp-kirche-online.de/content/treffen-für-theologische-bloggerinnen-und-blogger-13-september-2019-1400-1830-uhr). Ich schaffe es leider heuer nicht dorthin, vielleicht klappt es ja nächstes Jahr.

Rezension

Die Untersuchung ist im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts mit dem Titel “Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989” entstanden. Man spürt es der Arbeit ab, dass ihre Entstehung keine isolierte Schreibtischarbeit war, sondern sich vielfältigen Anregungen und kompetenter Unterstützung verdankt. So ist die Detailtiefe nicht nur in den Fußnoten erstaunlich hoch und man merkt, dass gründliche Personenrecherchen im Hintergrund stehen, die sympathischerweise offen in einem Wiki zugänglich gemacht wurden (https://wiki.de.dariah.eu/display/F1P/Datenbank). Umfangreiche Archivrecherchen der Autorin und Gespräche mit Zeitgenossen (S. 34f) versprechen der Wissenschaft nicht nur eine übersichtliche Darstellung, sondern auch neue Erkenntnisse.

Obwohl es schwerpunktmäßig um zwei prägende Personen geht, Eberhard Müller und Friedrich Karrenberg, folgt das Werk einem netzwerktheoretischen Ansatz und versucht besonders die (sozial)ethischen Diskussionen und Weichenstellungen der Nachkriegszeit in den Blick zu nehmen. “Geleitet von einem akteursorientierten Ansatz sollen die Kommunikationsbedingungen protestantischer Netzwerke in ihrer Einbettung in bestehende und entstehende Deutungszusammenhänge herausgearbeitet werden.” (S. 19). Die Titelgrafik deutet das an, spannend wäre der Versuch gewesen, im Buch mit Hilfe einer Infografik wichtige Beziehungslinien der Hauptakteur/innen darzustellen.

Wichtig erscheint mir das Werk vor allem deshalb, weil in der Nachkriegszeit Weichenstellungen für das Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik getroffen wurden, die prägend und nach der neuheidnischen Nazi-Zeit auch wieder vergleichsweise stark kirchlich bestimmt waren. Was davon lässt sich heute begründet bewahren? Wo müssen wir anderseits Verstrickungen und historisch begründete einseitige Festlegungen von Akteuren erkennen, die heute mit größerem Abstand revisionsbedürftig sind. Als Stichworte mögen genügen: Soziale Marktwirtschaft, Westbindung, Wiederbewaffnung, hinkende Trennung von Staat und Kirche, Mitbestimmungsfrage/Gewerkschaften.

Detailliert beschreibt Hoppe die Wurzeln der sozialkirchlichen Arbeit wie die Gründung von Sozialpfarrämtern Anfang der 1920er Jahre (S. 46), außerdem die prägende Wirkung christlicher Studentenarbeit im Rahmen der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) sowie der Neuwerk-Bewegung, die zwei Höfe gründete, regelmäßige Pfingsttreffen durchführte und auch religiösen Sozialisten eine Plattform bot.

Eberhard Müller

Spannend war für mich als Württemberger besonders die Darstellung von Eberhard Müllers Wirken,  der 1945 die Evangelische Akademie Bad Boll gründete, die heute noch besteht und vom Ruf der legendären Gründerjahre zehrt und damals einen viel beachteten Ort für offene Gespräche zwischen Kirche, Wirtschaft und Politik schaffen konnte. Außerdem der Einblick in die Gründerzeit und die Entwicklungen der Evangelischen Kirchentage, die als “Evangelische Wochen” erstmals 1935 stattfanden, der ein wichtiges Element der Breitenwirkung des Protestantismus werden sollte.

Friedrich Karrenberg

Neu kennen gelernt habe ich den Unternehmersohn und Sozialethiker Friedrich Karrenberg und sein Soziallexikon, das er mit großer Energie initiierte und zu dessen Autoren auch Eberhard Müller gehörte. Nachdem die Soziale Frage schon mindestens seit Johann Hinrich Wichern auf der Tagesordnung der Kirche stand, wurden nun die damit zusammenhängenden Fragen endlich übersichtlich, wissenschaftlich und mit der schließlich erfüllten Hoffnung auf Breitenwirkung angegangen. Ausführlich wird nachgezeichnet, wie Karrenberg sich zu einer prägenden Figur entwickelte, die ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Fachverstand wirkmächtig in die Debatte einbrachte. Ihm gelang es wie wenigen anderen, die neue Laienorientierung des Protestantismus zu verkörpern und Einfluss auf EKD und Kirchentag zu nehmen: “Der Sozialethische Ausschuss der Evangelischen Kirche im Rheinland, die Arbeitsgruppe IV des DEKT [Kirchentags], die Sozialkammer der EKD und nicht zuletzt die Gründung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD gehen auf sein Wirken zurück.” (S. 255)

Auch die Nachzeichnung der Verlagsgeschichte des ursprünglich in Stuttgart heimischen Kreuz-Verlags ist lesenswert. Ja, was waren das noch für mutige Gründerzeiten für theologische Verlage, während man heute das Gefühl hat, dass allenthalben nur noch abgewickelt, ausgedünnt und inhaltlich abgeflacht wird. Der Tübinger Verlag Mohr Siebeck bildet hier wie es scheint eine rühmliche Ausnahme, auch wenn der Preis der hier besprochenen und in als zweiter Band der Reihe “Religion in der Bundesrepublik Deutschland” erschienenen Dissertation zeigt, dass man es nicht wie der Kreuz-Verlag früher auf Breitenwirkung abgesehen hat. So weiß man etwa beim neuen Logo des Gütersloher Verlagshauses, mit dem ich schon länger zu tun habe, nicht, ob die Sonne des Gründungsverlags des Welltkonzerns Randomhouse auf- oder untergeht … (https://www.randomhouse.de/Verlag/Guetersloher-Verlagshaus/50000.rhd).

Fazit

Der Protestantismus der Nachkriegszeit war in Sozialfragen ein prägender Faktor und bot der Nachkriegsgesellschaft immer wieder ein Forum, auf dem wichtige Selbstverständigungsdebatten stattfinden konnten.  Daher stammt der etwas kryptische Titel der Arbeit. Extrem kenntnisreich und gut lesbar stellt die Autorin wichtige Entwicklungslinien dar und zeichnet ein Bild, das große Überzeugungskraft hat. Trotz der zahlreichen Verästelungen und Nebenschauplätze erfährt man auch als Gemeindepfarrer vieles, was einen schmunzeln lässt, etwa die große Prägekraft von Schülerbibelkreisen und Studentenarbeit oder die Herkunft der bis heute bestehenden KTAs, von denen man nie weiß, ob man sie KThA abkürzt und die als Kirchlich-Theologische Arbeitsgemeinschaft 1947 in Bad Boll gegründet wurden (S. 26, Fn. 10). Erst recht ist das wissenschaftliche Verdienst unschätzbar, dass deutlich wird, wie prägend und segensreich der Protestantismus in der Nachkriegszeit auf die Gesellschaft der Bundesrepublik gewirkt hat. Möge es auch in unseren Zeiten – wenn auch unter deutlich pluralistischeren Vorzeichen als damals – so bleiben!

Links

Print Friendly, PDF & Email
Rezension “Der Protestantismus als Forum und Faktor”
Markiert in:             

4 Kommentare zu „Rezension “Der Protestantismus als Forum und Faktor”

  • Pingback:Rezension “Kann Kirche Demokratie” – Ebiblog

  • 10. September 2019 um 14:07 Uhr
    Permalink

    „Der Protestantismus der Nachkriegszeit war in Sozialfragen ein prägender Faktor und bot der Nachkriegsgesellschaft immer wieder ein Forum, auf dem wichtige Selbstverständigungs¬debatten stattfinden konnten.“
    Richtig: Er WAR ein Faktor, WAR ein Forum.
    Immer wieder stand bei uns in der Evan¬gelischen Akademie Bad Boll die Frage Forum oder Faktor auf der internen Tagesordnung. Nicht angegriffen haben wir die Frage, wie man beides, Forum und Faktor in zeitgemäße und finanzierbare Formen überführen kann. Als ich von einer digitalen Akademie als offenes Forum im Internet sprach, winkte der Direktor ab. Recht hatte er. Die dafür nötige EKD-weite Funktionsaufteilung wäre in unserem kirchlichen Flickenteppich nie durchgekom¬men.
    Wenn man in die Medien schaut, spielen die kirchlichen Akademien so gut wie keine Rolle mehr. Akademien waren Talk-Shows vor dem Begriff. Wir haben untätig zugesehen, wie uns die TV- Talk-Shows die Show entwendet haben. Die sind einfach besser, auch weil hinter jedem Talkmaster ein ganzes Team steht, das ihm zuarbeitet, und auch, weil es den Politikern nicht mehr reizvoll erscheint, in Akademiemikrophone zu sprechen. Im TV ist die Einschaltquote exorbitant höher.
    Eine kirchliche Akademie auf der Höhe der Zeit hätte Geld gekostet. Verteilt auf alle Landes¬kirchen wäre das zu stemmen gewesen. So aber haben wir unserer gesellschafts-politischen Verzwergung zugesehen. Hinzu kommt, dass die Akademie kleingespart wurde. Sie war oft genug unbequem. Ein Oberkirchenrat eröffnete eine Tagung mit dem Statement, man finanziere gerne die Akademie, aber nicht dafür, dass sie Tagungen wie diese anbiete.
    Aber wir haben ganz toll gebaut, so toll, dass wir Platz lassen müssen für lauter „Gasttagungen“, weil für gesellschaftlich-politische Themen den potentiellen Teilnehmern oft die Begleitkosten für Unterkunft und Verpflegung zu hoch sind, die Gasttagungen werden fremdfinanziert und lasten unseren Hotelbetrieb aus.

    Antworten
    • 10. September 2019 um 18:43 Uhr
      Permalink

      Danke für diesen Insider-Blick. Ja, die Zeiten haben sich geändert … Trotzdem machen dir Akademien noch gute Arbeit, auch wenn sie nicht mehr so stark wahrgenommen wird.

      Antworten
      • 10. September 2019 um 22:17 Uhr
        Permalink

        Ich erinnere mich an engagierte Kollegen, die gute Arbeit machten. Das dürfte auch weiterhin so sein. Ich erinnere mich an meine Tagungen. In meiner Tagungsreihe Kinderkram hatte ich Jahr um Jahr lauter kompetente und engagierte Fachleute als Referenten und als Tagungsteil¬nehmer. Jahr um Jahr waren wir ziemlich einer Meinung, was zum Kinderschutz getan werden müsste. Aber es änderte sich nichts. In manchen Fällen weiß ich, warum: in der Regel, weil es Geld und Einfluss gekostet hätte. Auch die Politiker auf dem Podium sagten Ja, man sollte . Es gibt ein böses Bonmot über Akademiearbeit: Wir tagen und tagen, doch hell wird es nicht. Akademien sind keine erfolgreiche Lobby, für was auch immer. Der im Artikel genannte Eberhard Müller soll laut Aussage eines Zeitzeugen gesagt haben, er werde diese Landes¬kirche von der Akademie aus führen. Diesem Führungsanspruch ist er und konnte er nicht gerecht werden. Nun hängt sein Porträt neben dem Eingang eines Tagungsraums. Wenn man die Tür öffnet, verschwindet er dahinter.

        Antworten

Schreibe einen Kommentar zu th.ebinger Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert