Transformative Ethik – Wege zum Leben. Einführung in eine Ethik zum Selberdenken, Tobias Faix und Thorsten Dietz, 414 S., 30 Euro, Neukirchen-Vluyn 2021

Wenn es unter Christen Diskussionen und Streit gibt, dann meist weniger wegen systematisch-theologischer Fragen. Meist geht es um verschiedene Auffassungen der Ethik. Die beiden Professoren (https://www.cvjm-hochschule.de/hochschule/personen/person/person/faix-dth-unisa-tobias/ und https://www.eh-tabor.de/de/ev-hochschule-tabor/personal/dietz) sind biographisch erfahrungsgesättigte Grenzgänger zwischen universitärer Theologie und (post-)evangelikaler Szene. Thorsten Dietz ist durch seine Worthaus-Vorträge und den Podcast “Das Wort und das Fleisch” inzwischen einem breiteren Publikum bekannt. Tobias Faix hat sich eher mit empirischen Untersuchungen, etwa zur Generation Lobpreis, einen Namen gemacht.

Was ist von ihrer transformativen Ethik zu halten? Zuerst einmal war ich skeptisch, was den Titel angeht – eine Skepsis, die ich beim Lesen des Werks nicht ganz verloren habe. Transformation ist schließlich ein Modebegriff, der nicht immer zur sachlichen Klärung beiträgt. Schließlich ist nichts so beständig wie der Wandel. Im Hintergrund steht wohl nicht zuletzt der Studiengang “Transformationsstudien”, der öffentliche Theologie und soziale Arbeit zu kombinieren verspricht. Die Akkreditierung von Studiengängen im Rahmen des Bologna-Prozesses hat schon viele Studiengänge hervorgebracht, die gut klingen und später eine breitere Berufswahl ermöglichen sollen. “Transformativ” soll die Ethik sein (S. 20), weil sie Transformationsprozesse deskriptiv aufgreift und gleichzeitig – durch das daraus folgende Handeln – selbst Transformationsprozesse auslöst. Beides sollte jedoch für jede Ethik in gegenwärtiger Verantwortung gelten und damit selbstverständlich sein.

Auch der Untertitel “Einführung in eine Ethik zum Selberdenken” wirkt auf mich etwas anbiedernd, ist Ethik doch immer eine Form von Reflexion, die auf Mitdenken und Einverständnis zielt. Eine “bevormundende Ethik” zu schreiben ist ein Widerspruch in sich selbst. Freilich gibt es gerade im Bereich der Ethik viel Bevormundung durch selbst ernannte Autoritäten, so dass dieser emanzipatorische Untertitel vielleicht doch sein Recht haben mag. Immerhin gibt es immer wieder  ausdrückliche Anregungen zur Selbstreflexion, die einem studentischen Lehrwerk angemessen sind und sich auch für die Erwachsenenbildung als Gesprächsimpuls eignen.

Theologische Orientierung

Die beiden Autoren versuchen zwischen moderner liberaler und bibeltreu-evangelikaler Theologie einen mittleren Weg zu gehen und “halten […] einen ungeschichtlichen Biblizismus für gleichermaßen problematisch wie eine christliche Bibelvergessenheit.” (S. 22)

Noch deutlicher aus S. 42: “Wir halten pietistisch-evangelikale und protestantisch-moderne Positionen nicht für schlechthin unvereinbar, sondern lassen uns leiten vom (sic!) dem Wort der beiden Theologen Stanley Hauerwas und Will Willimon: ‘Bei der christlichen Ethik geht es nicht darum, ob sie konservativ ist oder lieberal, sondern ob sie ein getreues Zeugnis der Berufung der Kirche zur Nachfolge Jesu ist.’ Deshalb ist diese Ethik auch der Versuch, sich dem Zwang der Fraktionen zu entziehen und einen Weg jenseits der ausgetretenen Pfade zu finden.”

Dieser mittlere Weg ist aus meiner Sicht durchaus gelungen und vermeidet Engführungen auf beiden Seiten, wird freilich auch Kritik von beiden Seiten auf sich ziehen. Für die pietistisch-evangelikale Seite kann man exemplarisch die Anfragen von Ulrich Parzany lesen:  https://www.bibelundbekenntnis.de/publikationen/transformative-ethik/ Von Seiten der liberalen Theologie ist mir noch keine Stellungnahme bekannt.

Landkartenmetaphorik

Stark geprägt ist das Werk durch die Metapher der Landkarte. Natürlich kann man Handeln als Weg mit einem Ziel verstehen. Zur Orientierung dienen dann Landkarten und die Bibel wird zu einer solchen erklärt (S. 25). Zwischen dem Gelände und der Landkarte gibt es einen Unterschied und wenn sich das Gelände verändert, muss auch die Karte angepasst werden.  Immer wieder gibt es Paradigmenwechsel und deutlich wird von den Autoren betont, dass die Bibel geschichtlich auszulegen ist. Deshalb kann ihre Orientierungskraft nicht ohne zusätzliche Überlegungen und Auslegungen auf eine Gegenwart übertragen werden, die eine andere historische Situation darstellt.

Die innere Haltung in ethischen Fragen kann dann als “innerer Kompass” bezeichnet werden (S. 35). Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit werden zu “Wegweisern”. Das ganze Werk ist nach dieser Metaphorik gegliedert. Leider wird der reflexive Diskurscharakter von Ethik durch das eher statische Bild von Landkarten, Wegen und Gebiet m. E. unterbetont. Schließlich wird – trotz aller konstruktivistischen Ansätze – suggeriert, dass für alle Menschen im gleichen Gelände die gleiche Karte reicht, wenn die Karte nur gründlich genug geprüft und mit der tatsächlichen Landschaft abgeglichen wurde.

Exemplarische Themen

Auch wenn das vorliegende Werk erst die Einführung ist und noch keine Einzelfragen behandelt, gibt es spannende erste Anwendungsfälle. So nehmen die Autoren das Thema Gerechtigkeit so ernst, dass sie im ganzen Werk gendergerecht formulieren und von “Christ:innen” und “Leser:innen” reden. “Manchmal ist es wichtig, diejenigen sichtbar zu machen, die viel zu oft unsichtbar gemacht werden”. (S. 363-365)

Gewalt in der Kindererziehung (S. 211ff) wird als Beispiel herangezogen um zu zeigen, dass sich biblische Anweisungen nicht unreflektiert auf heutige christliche Erziehungsprinzipien übertragen lassen. “Zugleich sagen wir aus heutiger Sicht: Diese Regeln sind nicht überzeitlich oder universal gültig; sie sind Ausdruck der Weltanschauung und Kultur der Entstehungszeit der biblischen Texte”. (S. 214).

Anregend sind die Ausführungen zu christlicher Staatsethik und moderner Demokratie (S. 110 ff). Für die Fragen der christlichen Sexualethik (“Gehört Sexualität ausschließlich in die Ehe?”, “Ehe für alle”) wird man auf den zweiten Band vertröstet – ein Cliffhanger, der dem Verlag neue Umsätze bescheren wird. Wer so lange nicht warten will, kann die Position von Thorsten Dietz zum Thema Homosexualität und gleichgeschlechtliche Liebe bereits hier anklingen hören: https://wort-und-fleisch.de/der-postevangelikalismus/ .

Als aktuelle ethische Konfliktlinien  der Gegenwart werden auf S. 49f folgende Themen identifiziert: Geschlechternormen (Gender), Multikulturalismus, Lebensrecht und Klimagerechtigkeit. Dabei wird m. E. völlig zu Recht vor einer Dogmatisierung ethischer Fragen (S. 52) gewarnt.

Machart

Viele Ausführungen sind wissenschaftlich gut erarbeitet, sauber mit Fußnoten belegt, viele aktuell diskutierte Positionen werden aufgegriffen, auch solche internationaler Herkunft. Solche Passagen, in denen historische Hintergründe und Entwicklungen dargelegt werden, dürften theologische Laien zumindest sehr fordern, wenn nicht überfordern.

Acht Schritte für eine gute ethische Entscheidung

Sehr beliebt, nicht nur für den Religionsunterricht in der Oberstufe, sind Schrittfolgen für die ethische Urteilsbildung. Ähnlich wie beim Klassiker Heinz Tödt (Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: Ders.: Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21-28. ) wird hier ein Stufenschema in mehreren Schritten vorgeschlagen, das sich an der Metaphorik der Landkarte orientiert.

Mich überzeugt die Darstellung und Zuordnung der Schritte nicht vollständig, deren Zusammenfassung so aussieht:

  • Phase I: Losgehen (Standortbestimmung und Situationsanalyse: Karten wahrnehmen, das Gebiet verorten und den eigenen Standpunkt reflektieren)

    • Schritt 1: Der Konflikt: Beschreibung der Problemstellung
    • Schritt 2: Gebiet und Erkundung: Fakten des Falls
    • Schritt 3: Standortbestimmung: Die eigene Rahmenstory der ethischen Entscheidung
  • Phase II: Orientieren (Zielvorstellungen und Wegüberprüfung: den richtigen Wegweisern folgen und das Ziel vor Augen haben)

    • Schritt 4: Das Ziel vor Augen: Die biblische Urteilsbildung und die Story Gottes
    • Schritt 5: Wegweiser: Motive und Verantwortungsbereiche
  • Phase III: Ankommen (Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungen: die erarbeiteten Möglichkeiten überprüfen und eine Entscheidung fällen)

    • Schritt 6: Verschiedene Wege: Handlungsoptionen

    • Schritt 7: Der richtige Weg? Vorläufige Entscheidung und deren Überprüfung

    • Schritt 8: Wegentscheidung: Endgültige Entscheidung

Viel plausibler wäre es, wenn man im Bild bleiben will, Phase I als Standortbestimmung zu bezeichnen und Phase III als Losgehen. Insgesamt erscheint mir hier das Bild von Karte, Gebiet und Wanderung zu sehr die inhaltliche Analyse zu bestimmen. Auch die ethische Unterscheidung von Wahl des Zieles einer Handlung und der Wahl der Mittel ist m. E. nicht deutlich genug enthalten (rechtfertigt der Zweck die Mittel?).

Dies kommt im Schema meines Doktorvaters Eilert Herms (Grundlinien einer ethischen Theorie der Bildung von ethischen Vorzüglichkeitsurteilen, in: ders., Gesellschaft gestalten 1991, 44-55) wesentlich besser zum Ausdruck, der folgendes Schema aufstellt, das m. E. stichhaltiger ist:

  • Phase I:

    • 1. Feststellung der Komplexität des Problems
  • Phase II:

    • 2. Inhaltliche Analyse jeder der im vorliegenden Fall zu beurteilenden Handlungen nach:
      • (1) ihren Zielen (erwünschten Folgen)
      • (2) ihren Mitteln
      • (3) den Gründen und Ursachen der Mittelwahl
      • (4) den Gründen und Ursachen der Zielwahl
  • Phase III:

    • 3. Technische Überprüfung der für ein zu beurteilendes Handeln relevanten gesetzlichen Zusammenhänge im Blick auf folgende Sachverhalte:

      • (1) Ziel-Mittel-Relation
      • (2) Folgen der Zielzustände
      • (3) Nebenfolgen der Mittel
      • (4) Ursachen für die Motive der Zielwahl
      • (5) Ursachen für die Motive der Mittelwahl
    • 4. Ethische Überprüfung folgender Sachverhalte am jeweils maßgeblichen Wirklichkeitsverständnis (“vision of life”)

      • (1) Ziele und Zielfolgen
      • (2) Mittel und Nebenfolgen der Mittel
      • (3) Gründe der Zielwahl
      • (4) Gründe der Mittelwahl
    • 5. Entscheidung

Fazit

Das Buch ist absolut lesenswert und auf der Höhe der theologischen Wissenschaft. Die Bemühung um Aktualität ist sehr zu loben, die gründliche Auseinandersetzung mit biblischen Leitlinien, die platten Biblizismus vermeidet, ist sicher ein Alleinstellungsmerkmal dieser Ethik. Gespannt darf man  auf den Folgeband sein, der viele aktuelle Streitthemen ansprechen soll.

Nicht wirklich überzeugt hat mich der “transformative” Anspruch. Nichts ist so beständig wie der Wandel und das Neue unter der Sonne muss man mit der Lupe suchen. Da Handeln schon per se Transformation ist und ethische Herausforderungen sich immer dann neu stellen, wenn sich Technologie und Gesellschaft verändern, ist eine Ethik, solange es Fortschritt gibt, eigentlich immer transformativ, egal ob sie von Aristoteles oder von Thorsten Dietz und Tobias Faix geschrieben wird.

 

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Rezension “Transformative Ethik. Wege zum Leben”
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4 Kommentare zu „Rezension “Transformative Ethik. Wege zum Leben”

  • Pingback:“Karte & Gebiet – Eine Ethik zum Selberdenken. Reflexionen zu Buch und Podcast.” | Tobias Faix

  • 16. November 2021 um 21:45 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für die informative Rezension. Eine Frage habe ich aber doch noch: Eine evangelische Ethik in den Spuren von Paulus und Luther kann sich ja nicht um die Verlegenheit drücken, dass die ganze schöne Ethik (in den Büchern und dann auch im echten Leben) zwar einiges mehr oder weniger leistet, aber letztlich dort endet, wo wir Menschen am göttlichen Anspruch scheitern.
    Wie wird dieses Scheitern im vorliegenden Werk (oder etwa bei Herms) in die ethische Theorie zurückgebunden? Bonhoeffer z. B. hat das sehr tief reflektiert.

    Antworten
    • 16. November 2021 um 22:34 Uhr
      Permalink

      Im Rahmen der biblischen Story wird das durchaus aufgegriffen, etwa unter 4.1.2 “Fall – Einschnitt und Gebrochenheit”, wo Moltmann zitiert wird: “Gott setzt sich zum Menschen in jenes Verhältnis, in dem jener sein Bild ist. Die menschliche Sünde vermag wohl das Gottesverhältnis des Menschen zu verkehren, nicht aber das Menschenverhältnis Gottes zu zerstören. Dieses ist von Gott beschlossen und geschaffen und kann darum auch nur von Gott selbst aufgehoben oder zurückgenommen werden. Darum wird der Sünder subjektiv ganz und gar Sünder und gottlos. Er bleibt aber darum zugleich ganz und gar Gottes Bild und wird diese seine Bestimmung nicht los, solange Gott sie festhält und ihm treu bleibt”. Oder im Abschnitt 4.4 (Jesus – Inkarnation und Erlösung) auf S. 154: “Die gnädige Zuwendung Gottes in Jesus Christus ist die Grundvoraussetzung einer ‘besseren Gerechtigkeit’ (Mt 5,20), wie sie Jesus proklamiert. Im Abschnitt 6.2.2 (Die reformatorische Ausdifferenzierung bei Luther) finden sich Aussagen, die in diese Richtung gehen: “Diesem Leistungsaspekt des Liebesgedankens widerspricht Luther: Gottes Liebe ist ein bedingungsloses Geschenk, das der Mensch nur empfangen kann – im Glauben.” (S. 242). In den acht Schritten für eine gute ethische Entscheidung fehlt das Moment des Scheiterns an göttlichen Ansprüchen und die deshalb notwendige Vergebung tatsächlich. Da es aber hier um Reflexion vor dem Tun und nicht um das Handeln selbst geht, halte ich das für vertretbar.

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