Das ist wahrscheinlich keine überraschende Beobachtung: Die Zeiten verändern sich und wir uns mit ihnen und irgendwie werden die Zeiten und die Menschen immer kurzatmiger. Neulich habe ich sehr deutlich diese Schere im Kopf gespürt: Nutze ich die Zeit, die ein anderer kurz beschäftigt ist, um schnell auf dem Handy nach den Nachrichten zu schauen, Emails zu checken, eine Runde Quizduell zu spielen. Oder lasse ich das lieber, weil das unhöflich wirken könnte? Das Phänomen kann man ja nicht nur in der Stadtbahn beobachten. Da sitzen Menschen nebeneinander, aber sie kommunizieren mit irgendwem irgendwo. Nur keine Zeit verlieren, dabei verliert man die Zeit für ein nettes Gespräch mit seiner Nebensitzerin. Eine schöne Initiative wendet sich gegen das Brüskieren von Mitmenschen durch den (meist leicht depressiv nach unten gesenkten) Blick auf irgendein Device:  http://stopphubbing.com/ “Phubbing” ist ein Kunstwort aus snubbing = mutwillig ignorieren, brüskieren und phone. Als deutsches Pendant könnte man vielleicht “gerätignorieren” sagen. Auf der Internetseite heißt es schön drastisch (natürlich auf Englisch):

Stell Dir vor, dass künftig Paare stumm nebeneinander sitzen. Beziehungen finden als Status Update statt. Die Fähigkeit zu reden oder sich von Angesicht zu Angesicht zu unterhalten ist völlig verschwunden. Es muss etwas geschehen und es muss jetzt geschehen.

Hoffen wir, dass etwas geschieht. Denn die folgen dieses kollektiven Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms für uns als Gesellschaft sind noch nicht absehbar. Das gilt erst recht für die Kirche, in der Menschen seit Jahrhunderten eine lebendige Gemeinschaft gebildet haben, die sich physisch getroffen hat. Ich finde Experimente wie die twomplet = Twitter-Complet spannend (vgl.  https://twitter.com/twomplet ). https://twitter.com/twomplet/status/460133258282676224 Gilt Bonhoeffers schöne Aussage auch für virtuelle Kanäle? Die Frage finde ich nicht leicht zu entscheiden … Aber ich bin mir sicher, dass eine positive Antwort unsere Kirche massiv verändern wird.

Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders; jener ist ungewiß, dieser ist gewiß. Damit ist zugleich das Ziel aller Gemeinschaft der Christen deutlich: Sie begegnen einander als Bringer der Heilsbotschaft. Als solche lässt Gott sie zusammenkommen und schenkt ihnen Gemeinschaft.

Und ich glaube auch, dass die Virtualisierung von Beziehungen eine viel größere Herausforderung für eine Kirche ist, die vor Ort bleiben will und bleiben sollte,  – auch und gerade wegen der KMU V – als die Säkularisierung, die laut gegenwärtiger Soziologie ja ohnehin kein unumkehrbarer, zielgerichteter Prozess mehr ist, der irgendwann von allein zum Verschwinden der Religion führt  (Hier eine schöne Übersicht zum Thema von Karl Gabriel: http://www.bpb.de/apuz/30761/jenseits-von-saekularisierung-und-wiederkehr-der-goetter?p=all) Wie komme ich gerade heute auf dieses Thema? Im Gottesdienst, bei dem ich predigen durfte, kam heute einer meiner Lieblingsbibelverse vor:

Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Jesaja 40,31

Auf Gott harren, also warten. Können wir das noch? Warten bis er eingreift? Bis dahin haben wir doch meist längst irgend eine Eigen-Initiative ergriffen oder uns billig oder sogar teuer abgelenkt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass “harren” weitgehend aus unserem Wortschatz verschwunden ist. “Ausharren” hört man gelegentlich noch, aber es ist doch interessant, was heute noch harrt und wer nicht (vgl. http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-portal/de/wort_www?site=208&Wort_id=2746461  ). Da harren mehr Dinge und Probleme einer Lösung oder Computerdaten einer Analyse als Menschen, wenn sie nicht gerade als Bergarbeiter verschüttet sind.

Signifikante linke Nachbarn von harren: Lösung (122.32), Dinge (104.38), Computerdaten (81.8), Entdeckung (59.4), und (58.34), Plünderern (55.49), Menschen (54.28), Sie (46.85), Bergarbeiter (44.47), 5. August (41.67), Bergleute (36.5), Demonstranten (35.26), Dort (33.12), Wir (23.43), Trotzdem (22.7), Monaten (16.61), August (16.61), Männer (16.4), Tagen (16.09)

Wir haben heute alles außer Geduld, können alles gut und schnell außer warten. Dabei sparen wir doch so viel Zeit im Vergleich zu früheren Zeiten, dass wir Zeit genug übrig haben müssten für eine Begegnung und ein Gespräch in der Stadtbahn mit jemand, den man noch nicht kennt oder für eine Autofahrt zu einem alten Freund, damit man mal wieder ein richtiges Status-update bekommt.

Wie kurieren wir also unser kollektives ADHS, das zumindest die Always Onliner unter uns bedroht? Wie wäre es damit: Einfach in den Pausen, die im Alltag von allein entstehen, mal wieder warten und ausharren, in Gedanken Gott durch ein Gebet nahe sein und Geduld üben. Dann braucht man auch keine andere Burnout-Prävention mehr …

P. S. Der Traum vom Fliegen mit Flügeln wie Adler (s.o.) passt zur Trendsportart Basejumping, hier ein eindrucksvoller Bericht im ZDF. Auch ein Weg, um in unseren erlebnisarmen Zeiten mehr Adrenalin in den Adern zu spüren …

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2133352/Ueber-die-Grenzen-hinaus#/beitrag/video/2133352/Ueber-die-Grenzen-hinaus

Warte mal! – Wie werde ich mein ADHS los?
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2 Kommentare zu „Warte mal! – Wie werde ich mein ADHS los?

  • 6. Mai 2015 um 12:52 Uhr
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    Pseudo oder “kulturinduziertes” ADHS nennen die ADHS-Spezialisten Hallowell und Ratey dieses Phänomen. Unsere – wie sie sich ausdrücken – amerikanisierte Gesellschaft zeigen typische Symptome des ADHS: getrieben, ungesteuert, unüberlegt, unkonzentriert, reizoffen, jetztzentriert, ungeduldig, übersteuert, schlaflos, orientierungslos, haltlos.
    Für Menschen mit ADHS eine Mehrfachherausforderung, letztlich Überforderung: Sie sollen mit ihrem ADHS zu Rande kommen, aber werden dauernd von außen angetriggert. Für Kinder und Jugendliche unmöglich zu schaffen.

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    • 6. Mai 2015 um 21:29 Uhr
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      Ja, das stimmt durchaus. ADHS ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Es ist so leicht geworden, Ablenkung zu finden, dass man sich zu Konzentration regelrecht zwingen muss.

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