Wilfried Härle, Ja, aber! Ein Streitgespräch zwischen Glauben und Zweifel, 197 Seiten, 29,95 Euro
Schon zum zweiten Mal führten wir in unserer Gemeinde ein Leseprojekt durch. Im letzten Jahr haben wir mit extrem positiver Resonanz das Buch “Life Worth Living” von Miroslav Volf u.a. gelesen (siehe https://www.lifeworthlivingbook.com/). Das ist ein Kurs, der 2014 ursprünglich auf Anregung von Miroslav Volf an der Universität Yale in den USA mit 14 Studienanfängern stattgefunden hat. Diese fanden: Der Kurs muss jedes Semester stattfinden, weil er so wichtig ist. Ein richtiger Hype entstand, weitere Leute machten verantwortlich mit. 2022 hatten weltweit schon 5000 Studierende mitgemacht und 2023 erscheint dann das Buch zum Kurs, das zum Bestseller wird und im gleichen Jahr auch auf deutsch erscheint. (History | Life Worth Living | Yale Center for Faith & Culture ) Ich kann das Buch sehr empfehlen, weil es neben christlichen Perspektiven u.a. auch islamische, indigene, buddhistische, jüdische und konfuzianische berücksichtigt.
Nun haben wir einen neuen Text für ein Leseprojekt in der Passionszeit gesucht und mit “Ja, aber!” gefunden.
Rezension
Das Werk wird im Untertitel als “ein Streitgespräch zwischen Glauben und Zweifel” angekündigt. Auf dem Cover sieht man weiße und schwarze Schachfiguren. Das königliche Spiel legt nahe, dass es um eine spannende intellektuelle Auseinandersetzung geht. Und die muss ja nicht unbedingt mit Sieg oder Niederlage enden, sondern oft genug auch mit einem Remis.
Die Machart des Textes ist ungewöhnlich. Obwohl alle Texte aus der Feder von Wilfried Härle stammen, werden von B immer kritische Einwände vorgebracht, die von einem Agnostiker oder Atheisten stammen könnten, während A versucht, das Ganze des christlichen Glaubens für moderne Menschen anschlussfähig darzustellen.
Deutlich wird schon im Vorwort, wo erwähnt wird, dass der Autor am Ende seines Theologiestudiums erst einmal Atheist war (S. VIII), dass es um eine Art Rechenschaftsbericht der lebenslangen Denkbewegungen geht. Schon während seiner Heidelberger Zeit als Professor für Systematische Theologie und Ethik hat Härle dann auch mehrere Dialog-Vorlesungen gehalten, in die das Feedback der Hörerschaft einfließen konnte. Auch jetzt noch wünscht sich Härle Feedback auf seine Gedanken per Email und verspricht diese möglichst zu beantworten.
Zielgruppe
An wen richtet sich das Buch? Wilfried Härle ist ja durchaus ein in akademischen Kreisen sehr beliebter Autor, immerhin hat seine Dogmatik, die als Lehrbuch aufgebaut ist, die sechste Auflage erreicht und ist wohl nach wie vor für die Examensvorbereitung Theologiestudierender sehr beliebt.
In den letzten Jahren hat W. Härle nun aber stärker versucht, sein umfangreiches theologisches und ethisches Wissen über den universitären Rahmen hinaus interessierten Laien zugänglich zu machen. Zu diesen Versuchen gehört etwa das Buch “‘… und hätten ihn gern gefunden’ Gott auf der Spur“, das sich explizit an Menschen richtet, die gern glauben würden, aber nicht glauben können. Oder der Katechismus “Worauf es ankommt“, der ursprünglich im Rahmen eines Wettbewerbs der Badischen Landeskirche entstanden ist.
Die Erfahrung in unserer Lesegruppe hat gezeigt, dass die Texte durchaus anspruchsvoll sind und sehr dichte Gedanken präsentiert werden, in die man sich teilweise durch mehrfaches Lesen hineindenken muss. Für theologisch vorgebildete Menschen ist das nicht besonders herausfordernd; aber eine gewissen Bibel- und Fremdwortkenntnis macht es doch wesentlich einfacher dem Gedankengang zu folgen. Allerdings ist das Dialogprinzip hier sehr hilfreich, weil manchmal die kritische Nachfrage von B erst zeigt, wie man das Problem auch fassen und verstehen kann. Deshalb dürften Leute, die biographisch vom Glauben herkommen, bei denen sich aber immer mehr Zweifel eingestellt haben, eher die Zielgruppe sein als überzeugt Atheisten, die noch nie in der Bibel gelesen haben.
Andererseits sind alle Aussagen gut mit Bibelstellen belegt, so dass es auch die Chance gibt, mit Kernaussagen der Bibel vertraut zu werden.
Die Kapitel
In sieben Kapitel werden die durchaus immer wieder überraschenden Denkbewegungen präsentiert. Wir haben uns als Lesegruppe über jedes Kapitel 90 Minuten unterhalten.
Im ersten Kapitel geht es um die Frage: Was meinen wir, wenn wir von “Gott” reden? Hier wird implizit der Begriff der Theo-logie aufgegriffen. Härle sieht Gott vor allem als “Macht der Liebe” und nimmt das Reden Jesu über Gott und die Gottesherrschaft als als Leitbild. Anhand von vier Spannungselementen der Gottesherrschaft-Verkündigung Jesu (S. 11ff) wird nun der spannungsvollen Rede über Gott nachgegangen: Zukunft vs. Gegenwart, Besonderes vs. Alltägliches, Schwachheit vs. Stärke sowie Selbstwirksamkeit der Gottesherrschaft vs. Notwendigkeit sich darauf einzulassen.
Auf S. 20 wird in diesem Rahmen die Frage der Allerlösung (statt Allversöhnung) erörtert.
Im zweiten Kapitel folgt die Frage: In welcher Beziehung steht Gott zur Welt? Sehr zurückhaltend ist Härle gegenüber einer in frommen Kreisen weitverbreiteten theistischen Rede von Gott als einer der Welt gegenüberstehenden Person, die er für irreführend hält. “Das Reden von Gott in Kategorien des Geschehens und der Beziehung erscheint mir als angemessener”.
Ein kleiner theologischer Leckerbissen ist dann die Erläuterung des Panentheismus, den Härles A vertritt. Während im Pantheismus Gott mit der Natur gleichgesetzt wird, kann man Panentheismus so verstehen: Es wird an Gottes Allgegenwart und an seiner Unsichtbarkeit festgehalten. Alles was ist, ist in Gott. “Im Gegensatz zum Pantheismus vermischt der Panentheismus jedoch nicht Gott und Welt, und im Gegensatz zum Theismus trennt er beide nicht.” (S. 24) Veranschaulicht wird dies mit dem Bild der Schwangerschaft, wo der Säugling in seiner Mutter lebt und trotzdem nicht einfach Teil seiner Mutter ist.
Ausführlich diskutiert wird dann die Frage, wie man feststellen kann, ob man tatsächlich eine Gotteserfahrung gemacht hat. Klar wehrt Härle sich auf S. 38f gegen ein biblizistisches Verständnis der Bibel und schließt sich Luthers Bibelverständnis an, der die Frage nach dem Christus-Inhalt biblischer Texte für entscheidend hielt. Die Bibel legt menschliches Zeugnis ab von Christus und ist nicht identisch mit dem offenbarten Wort Gottes. (S. 39)
Schon für Konfi und inzwischen auch für Grundschulkinder ist die Frage von Kapitel 3: “Evolutionstheorie und/oder Schöpfungsglaube?” eine entscheidende, scheint sich doch hier relativ einfach zeigen zu lassen, dass der christliche Glaube naturwissenschaftlich überholt ist.
Härle zeigt hier, unterstützt vom Heidelberger Physiker Jörg Hüfner, dass ein Urknall kaum voraussetzungslos vorstellbar ist ohne etwas, das explodieren kann. Die moderne Physik kann nicht hinter den Urknall zurückgehen und weil der alles Wissen über den Vorgang selbst vernichtet hat, muss auch die Naturwissenschaft zugeben, dass ihre Erkenntnismöglichkeiten da enden. (S. 51) Auch erkenntnistheoretisch gilt in Anlehnung an Wolfgang Stegmüller, dass alles Wissen, egal ob empirisches oder logisches, einen Glauben voraussetzt, nämlich den Glauben an die Verlässlichkeit des Denkens. (S. 53).
Bei der Frage, wie Evolution funktioniert, betont Härle die Wichtigkeit zu klären, woher das Prinzip zunehmender Komplexität kommt und will dabei neben einer Wirkursache auch eine Zielursache am Werk sehen. (S. 59) Damit lässt sich dann widerspruchsfrei der Gedanke denken, “daß es einen Ursprung des Universums geben kann, der in einer Zielursache liegt, die von Gott ausgesagt werden kann, der durch die Realisierung seiner Zielursache zum Schöpfer des Universums wird, also sich selbst zum Schöpfer macht.”
Ein besonderes Highlight ist für mich das Kapitel 4 mit der Frage: Gehört der Tod zu Gottes guter Schöpfung? Intuitiv will man hier nein sagen und es kommen einem Aussagen wie “Der letzte Feind, der besiegt wird, ist der Tod” in den Sinn. Tatsächlich gelingt es Härle ein doppeltes weit verbreitetes Missverständnis aufzuklären: Das Leben im Paradies stellt man sich meist als ewig vor, schließlich geht man ins Paradies ein und lebt dann ewig. Aber das biblische Paradies hat für Adam und Eva ein zeitlich begrenztes Leben vorgesehen. Sie sollte ja nicht vom Baum des Lebens essen, damit sie nicht ewig leben (1. Mo. 3,22f). Also war die irdische Endlichkeit von vornherein vorgesehen. (S. 70) Das entspricht übrigens auch der Antwort der meisten Menschen auf die Frage : “Wie würden Sie sich entscheiden, wenn Sie wählen müßten, entweder morgen zu sterben oder nie mehr sterben zu können?” (S. 70) Hier antworten tatsächlich die meisten Menschen mit “morgen sterben”, ich habe es mit meinen Konfis selbst ausprobiert.
Das zweite Missverständnis besteht in einer Verwechslung von irdischem Tod mit dem ewigen Tod, von dem bei Paulus oft die Rede ist. In der Offenbarung des Johannes wird deutlich zwischen dem ersten und dem zweiten, ewigen Tod, unterschieden.
Dieses Kapitel enthält auch einen ausführlichen Exkurs zu Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben und ist damit für Seelsorger sehr lesenswert.
In Kapitel 5 wird die Frage der Theodizee verhandelt unter der Überschrift “Ist der Glaube an Gott mit dem Leiden in der Welt vereinbar?” Hier werden viele sinnvolle und bekannte Antwortversuche referiert. Aber auch B lässt nicht locker (S. 95): “Für mich bleibt die Frage unbeantwortet, warum ein allmächtiger, gütiger Gott zur Realisierung seiner Herrschaft ‘wie im Himmel so auf Erden’ den Umweg über die Erschaffung einer irdischen Welt mit all ihren Übeln wählt, statt gleich in irgendeiner Form das ewige Leben zu realisieren, in dem all diese Übel nicht vorkommen.”
“Welchen Sinn haben Gebete?”, fragt sich Kapitel 6. Unerhörte Gebete sind tatsächlich oft der Grund für Zweifel und ein Aufgeben des Glaubens. Härle lehnt sich hier stark an Schleiermachers und Luthers Gebetsverständnis an, in dem betont wird, dass durch das Gebet etwas in uns geschieht und dass uns im Gebet Gottes Gaben zuteil und bewusst werden. (S. 99). Gebet, auch Bitte und Fürbitte, ist aber wichtig “um durch das Gebet Anschluß zu gewinnen an die schöpferische Macht der Liebe“. (S. 101)
Spannend ist dann die Erklärung von Gebet als self-fulfilling prophecy. Was üblicherweise kritisch gegenüber Gläubigen vorgebracht wird, diese würden sich nur etwas einbilden, wendet Härle positiv am Beispiel der Rechtfertigungsverkündigung. “Denn hier wird ja den Hörern gerade nicht verheimlicht, daß es der durch die Ankündigung geweckt Glaube ist, durch den die Botschaft wahr wird.” (S. 109)
Veranschaulicht wird dies durch ein schwarz-weiß abgedrucktes und sehr herausforderndes Illusionsbild aus Tom Bacci, Das magische Auge II (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Magische_Auge) . Es dauert lange, bis man durch mentales Loslassen und unscharfes Sehen den geflügelten Löwen entdecken kann. Ein schönes Bild für den Glauben, der hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt eine zweite Wahrheitsebene sehr klar erkennt, die nicht jeder so sehen kann, selbst dann nicht, wenn er sich besonders anstrengt, die aber doch da ist.
In Kapitel 7 werden schließlich weitere einzelne Anfragen an den christlichen Glauben diskutiert, auch die Frage, um der Glaube so spürbar zurückgeht. Hier betont Härle, dass es weltweit durchaus Wachstum gibt, vor allem bei der Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegung. Auch sein Buch “Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht” wird erwähnt, allerdings liegt das nun auch schon wieder zwanzig Jahre zurück.
Er geht ein auf Abendmahl und Taufe, räumt das Missverständnis aus, als müsste Gott durch den Opfertod seines Sohnes versöhnt werden (S. 123) und referiert dafür ausführlicher Paul Tillichs Versöhnungslehre. Er widmet sich der Frage, wie man sich die Auferstehung Jesu vorstellen kann und woher die Jungfrauengeburt kommt. Außerdem wird erörtert, wie man mit der Aussage Jesus sei der Sohn Gottes umgehen kann. Schließlich geht es um die Menschenwürde, die eine gute Brücke darstellt zwischen christlichen und humanistischen Denkrichtungen.
Fazit der Leseprojekt-Teilnehmer

Wir hatten das große Glück, dass Wilfried Härle, der in Ostfildern lebt, nicht nur einmal in größerem Rahmen, sondern sogar ein zweites Mal in unsere Runde kam, um die Inhalte des Buchs mit uns zu diskutieren. Wir haben ihn da als extrem aufmerksamen Zuhörer erlebt, der im Gespräch viele der von uns vorgebrachten kritischen Anfragen klären oder jedenfalls seine Position besser verständlich machen konnte.
Alle konnten ihm ein ehrliches Feedback sagen. Positiv hervorgehoben wurde das Verständnis der Schöpfung. Kritisch gesehen die Aussagen zum Gebet, die weniger betonen, dass Gebet auch ein machtvolles Eingreifen in die Wirklichkeit zur Folge haben kann. Es wurde betont, wie wichtig das gemeinsame Gespräch war, dass der Glaube durch das Lesen vertieft wurde und das Kapitel über den Tod sehr hilfreich war.
Einer betonte die im Buch spürbare Verbindung von intellektuellem Anspruch und Herz und lobte besonders die Gedanken zum Panentheismus.
Positiv hervorgehoben wurde die Begründung vieler Aussagen mit Bibelstellen, die lohnenswert zu lesen sind, auch wo sie nicht im Text zitiert sind. Auch die Aussagen zum Kreuzestod Jesu waren sehr erhellend.
Unterschiedliche Einschätzungen gab es zur A/B Struktur des Textes. Während jemand meinte, das sei eher verwirrend und es hätte geholfen, erst mal nur A zu lesen, wurde von anderen gerade die dadurch bedingte Lebendigkeit und Offenheit des Gedankengangs hervorgehoben.
Mein Fazit
Wilfried Härle ist es gelungen, mit “Ja, aber!” ein Buch zu schreiben, das nicht einfach fertige Antworten liefert, sondern einen mit hinein nimmt in eine niveauvolle und gleichzeitig existentiell tiefe Denkbewegung. Es eignet sich gut, für alle, denen platte Antworten zuwider sind. Ein gewisser Bildungshintergrund und der Wille gründlich und mehrfach zu lesen ist die Voraussetzung, um zu profitieren. Selbst in der Theologie Erfahrene können hier noch viel Neues lernen und Impulse bekommen für Theorie und Praxis. Ich habe es jedenfalls sehr gern gelesen und wir sind in der Gruppe produktiv und tiefgründig miteinander ins Gespräch gekommen.
Zur Rechtschreibung
Ich frage mich, warum das Buch in alter Rechtschreibung geschrieben wurde und “daß” nicht durch “dass” etc. ersetzt worden ist? Das erscheint mir nicht zeitgemäß und sollte dringend korrigiert werden. Es gibt auch keinen Hinweis im Buch, warum die alte Rechtschreibung beibehalten wurde.
Weiterführende Links
- Artikel über Wilfried Härle und sein Buch in der Esslinger Zeitung: https://www.esslinger-zeitung.de/inhalt.buchautor-wilfried-haerle-aus-ostfildern-offene-religion-streitgespraeche-ueber-urknall-und-schoepfung.2539dd64-6521-4017-97f5-d86f4bec7c1f.html
- Das Buch auf den Seiten des Verlags: https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783111578897/html
- Private Homepage von Wilfried Härle: https://w-haerle.de/
- Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_H%C3%A4rle
- Meine Rezension des Katechismus von W. Härle, Worauf es ankommt
Kommentare?
Wie geht es euch mit den genannten Fragen? Wer hat das Buch schon selbst gelesen und teilt seine Einschätzung? Ich freue mich immer, wenn es hier oder auf Mastodon Kommentare gibt.