„Was wir wissen können und was wir glauben müssen“. Eine kleine Erkenntnistheorie für den Alltag. Volker Ladenthin, Echter Verlag Würzburg, 16,90 Euro 

Wer Kinder und Jugendliche erzieht und bildet, sollte wissen was er tut. Wer ihnen – orientiert an den Erkenntnissen der Wissenschaften – Wissen mitgeben will, kommt nicht umhin, über die Wahrheitsfrage nachzudenken. Schließlich geht es in der Schule meist um „richtig“ und „falsch“, Fächer, in denen wie in Religion oder Deutsch auch die eigene Meinung gefragt ist, weil es Interpretationsspielräume gibt, werden hingegen gern abgewertet. Im Hintergrund des Buches steht weitgehend unausgesprochen die Diskussion um die Kompetenzorientierung des Unterrichts. Nach dem Kompetenzparadigma geht es heute in der Schule weniger um kritische Reflexion und Allgemeinbildung als um die Ausbildung spezifischer, idealerweise leicht abprüfbarer und später für den Arbeitsmarkt verwertbarer Kompetenzen.

Ladenthin stellt sich angeregt durch die Fake-News-Thematik den Grundfragen der Erkenntnistheorie: „Worauf kann man sich felsenfest verlassen? […] Was ist Wahrheit?“ (S. 7). Sehr überzeugend ist seine Argumentation, dass wir schon immer in postfaktischen Zeiten gelebt haben. Denn Fakten sind menschlichem Handeln nicht einfach vorgegeben, sondern werden von uns selbst gemacht (S. 17). Eine direkte Ableitung des Handelns aus den „Dingen selbst“ ist nicht möglich. Auch evidenzbasiertes Vorgehen macht hier keine Ausnahme. Der Mensch handelt aufgrund von Freiheit. Selbst wenn er nicht wirklich frei ist, leben wir alle immer, als ob wir frei wären (S. 32).

Es folgt eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Wahrheitstheorien. Der Gedankenbogen spannt sich vom Gilgamesch-Epos, dem zoroastrischen Avesta über das Johannesevangelium und Plotin bis hin zu Nietzsche und Sherlock Holmes. Das Ergebnis: Im Alltag setzen wir Wahrheit voraus (S. 46). Wer leugnet, dass es Wahrheit gibt oder behauptet, dass es nicht nur eine, sondern viele Wahrheiten gebe und jeder seine eigenen habe, verwickelt sich in einen performativen Widerspruch (S. 50). Für das Leugnen des Wahrheitsanspruchs der Wahrheitsbefürworter muss man selbst Wahrheit beanspruchen. Dem entgehen auch nicht die Ansätze des Strukturalismus mit seiner Methodik der Dekonstruktion.

Doch damit ist noch nicht erklärt, warum es so viele Sinnestäuschungen und eine solche Vielfalt von Meinungen unter den Menschen gibt. Ladenthin orientiert sich hier an einem klassischen, von Meister Eckhart herkommenden, Bildungsbegriff: „Dieses Unterfangen, alles wissen zu wollen, aber zu wissen, dass man nie alles wissen wird, nennt man Bildung.“ (S. 93). Letztlich ist Gott das Urbild eines alles wissenden Wesens.

Beim Prozess der Annäherung helfen die Methoden. Vier davon werden ausführlich erläutert: Hermeneutik, Empirie, Pragmatik und normative Verfahren. Unbestreitbar ist dabei der große Erfolg der empirischen Naturwissenschaften, der mit der Beschreibung der Natur durch Mathematik verbunden ist. Doch unhintergehbar ist letztlich nur ein Phänomen: die Sprache. Ohne sie gibt es keine Wahrheitsansprüche und keine Argumente. Sprache kommt vor allen Methoden und ist damit eine Art „letzter Grund“ (S. 150). Hier merkt man deutlich die Verwurzelung Ladenthins in der modernen Sprachphilosophie. Allerdings schließt er – mir nicht plausibel – die Möglichkeit kategorisch aus, dass Sprache sich entwickelt hat und nicht schon immer da war (S. 168f). M. E. ist die anthropologische Wissenschaft da schon weiter, genauso wie viele Theologen und Philosophen, vgl. https://www.suhrkamp.de/buecher/die_urspruenge_der_menschlichen_kommunikation-michael_tomasello_58538.html und https://www.zeit.de/2009/51/Habermas-Tomasello/komplettansicht.

Es folgt ein Plädoyer für einen aufgeklärten Glauben, die Wahrheit braucht einen übermenschlichen Förderer, den manche Menschen Gott nennen. Wer sich auf die Wahrheitssuche begibt, ohne an Gott zu glauben, muss sich beständig die Frage stellen, wie er mit dieser Leerstelle umgeht, muss sich fragen, warum er überhaupt auf der Suche nach Wahrheit ist (S. 186). Natürlich ist das keine ausgeführte Theologie und die will Ladenthin auch gar nicht liefern. Aus Sicht der Theologie und Religionspädagogik ist es aber mehr als erfreulich, dass hier ein Erziehungswissenschaftler religiösen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen eine so grundlegende Bedeutung einräumt.

Eines hat mich bei der Lektüre gewundert: Die Denktradition der Phänomenologie wird fast vollständig ausgeblendet. Insbesondere die Erkenntnisse Edmund Husserls, der ausgehend von mathematischen Fragestellungen die Methode der phänomenologischen Redukation entwickelte, dürfen m. E. in einem solchen Buch nicht fehlen. Auch Anleihen bei Heidegger vermisst man, egal wie man zu diesem umstrittenen Denker inhaltlich steht. Vgl. dazu auch die Ausführungen in meiner Dissertation zu Sartre (https://books.google.de/books?id=mg88v087MPcC).

Zielgruppe

Das Buch soll „kein Fachbuch für Fachleute“ sein, sondern es soll all denen zur Orientierung dienen, „die handeln müssen“, die im Alltag stehen, Kinder unterrichten und erziehen oder „mit Kampfjets fliegen“. Ladenthin versucht, seinen eigenen, von mir knapp skizzierten, deutlich an Descartes und Kant sowie der hermeneutischen Sprachphilosophie orientierten Gedankengang zu formulieren und zieht vielfältigste Traditionen zur Illustration heran. Darin liegt Stärke und Schwäche des Buchs zugleich. Nicht immer ist deutlich, wo andere Denktraditionen selbständig dargestellt und gewürdigt werden und wo sie nur als Stichwortgeber dienen. Bewundernswert ist gleichwohl die Vielfalt der herangezogenen Quellen. Allein dafür lohnt es sich das Buch zu lesen und z. B. ägyptische Quellentexte zu entdecken.

Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass philosophisch wenig Vorgebildete das Buch mit Gewinn lesen werden. Dafür ist es einfach zu anspruchsvoll geschrieben. Zu empfehlen ist es allerdings tatsächlich allen, die mit Bildung und Erziehung zu tun haben oder für sich philosophisch die Wahrheitsfrage klären wollen. Hier werden Grundfragen von Wahrheit und Handeln, von Subjektivität und Intersubjektivität immer wieder mit so alltagsnahen Beispielen verhandelt, dass man die Erkenntnisse leicht in die eigene Arbeit und sogar den konkreten Unterricht integrieren kann.

Fazit

Ladenthins kleine Erkenntnistheorie ist absolut lesenswert und inspirierend, stellt sich wichtigen Grundfragen von Bildung und Erziehung und ist erfreulich offen für Themen des Glaubens. Es macht Freude, seinen Überlegungen zu folgen; manchmal verläuft man sich etwas in der Vielfalt der herbeigezogenen Traditionen, die gleichzeitig zu bewundern ist.

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Transparenz-Hinweis: Die Rezension kam auf Anregung von Prof. Volker Ladenthin zustande.

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Rezension „Was wir wissen können und was wir glauben müssen“ – von Volker Ladenthin
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