Alle zehn Jahre fühlt die Evangelische Kirche in Deutschland ihren Mitgliedern und neuerdings auch ausgewählten Konfessionslosen sozialwissenschaftlich fundiert und repräsentativ auf den Zahn (vgl. die Projektbeschreibung durch das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD: https://www.ekd.de/si/projekte/laufend/20633.html). Manchmal heißt das Ergebnis: Es war nur ein Phantomschmerz, die Kirchenfernen sind treuer als man dachte. Manchmal löst das Ergebnis einen Reformeifer aus mit dem Wunsch, gegen den Trend zu wachsen und überall Leuchtfeuer zu entzünden, die die verlorenen Schäflein wieder aus ihren postmodernen Rückzugswinkeln hervorholen und dem guten Hirten in die Herde zurückführen. Was ist die Botschaft der neuesten, fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU)? Ist der Zahn noch vital, ist er innen schon faul, durch eine Wurzelbehandlung noch zu retten oder ist gar Extraktion die letzte Lösung?

Zuerst einmal zu den Quellen. Alle relevanten Texte findet man hier: http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5.html Extrem bedauerlich finde ich, dass die EKD nur ausgewählte Zahlen und dafür viel Interpretation durch ausgewählte Experten bietet. Freilich werden diese noch veröffentlicht, aber was spricht eigentlich dagegen, alle mitdiskutieren zu lassen, die sich berufen fühlen, auch auf der Ebene der Gliedkirchen, auch einfache Gemeindeglieder und Christenhasser. Hat man hier Angst, die Kontrolle über die durchaus besorgniserregenden Zahlen zu verlieren und die Deutungshoheit zu verlieren?

Zunächst einige bemerkenswerte Zitate (alle aus http://www.ekd.de/download/ekd_v_kmu2014.pdf)

Die Mehrheit der Befragten steht der gesellschaftlichen Pluralität aufgeschlossen gegenüber. Die Forderung, dass alle religiösen Gruppen gleiche Rechte haben sollten, erfährt bei den Kirchenmitgliedern eine höhere Zustimmung als bei den Konfessionslosen. Das entscheidende Kriterium bildet dabei die Loyalität der jeweiligen Religionsgemeinschaft zur säkularen Rechtsordnung. Relevant ist zudem auch die innere Vielfalt in der Selbstwahrnehmung der Befragten: Gut die Hälfte der Evangelischen stimmt der Aussage »Jede Religion hat Stärken und Schwächen, man sollte sich das jeweils Beste daraus holen« völlig oder eher zu. Gleichzeitig verneint die große Mehrheit der Evangelischen die Frage, ob sie religiös auf der Suche seien. Die  Ablehnung unter den Konfessionslosen fällt noch erheblich klarer aus. Religiöse Experimentierfreudigkeit ist demnach eher schwach ausgeprägt.

 

Aus. Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft 

S. 8 

Dies bestätigt meine schon länger gehegte Vermutung und Beobachtung, dass es einen Trend zur Patchworkreligiosität gibt. Ich hatte Konfirmandengruppen, bei denen mehr als 50% der Meinung waren, dass man nach dem Tod wieder ins Leben zurückkehrt und eine neue Chance bekommt, Reinkarnation also. Dass sich das mit der christlichen Vorstellung vom ewigen Leben nicht verträgt, war für sie kein Problem. Auch das religiöse Fragen hat nach meiner Beobachtung nachgelassen. Man ist irgendwie christlich, lässt Gott einen guten Mann sein (Gott ist schließlich immer zu allen gut, die Vorstellung von Gott als Richter spielt praktisch keine Rolle mehr) und kümmert sich um Wichtigeres: die berufliche Zukunft vor allem, Pisa sei dank.

Besorgniserregend ist die deutliche Abnahme der Kirchenbindung bei Jugendlichen, die die Infografik schön zeigt. Man muss schon fast von einer Erosion der Kirchenbindung bei Jugendlichen sprechen.

Bild: EKD / Konzeption und Gestaltung: gobasil GmbH
Bild: EKD / Konzeption und Gestaltung: gobasil GmbH

Natürlich war die fromme Oma schon immer kirchenverbundener als ihre Enkelkinder. Aber früher war es den Eltern und Großeltern ein wichtiges Anliegen, dass auch die nächste Generation in Glaube und Kirche hineinwächst. Da hat sich deutlich etwas verändert. Immer mehr Eltern wollen ihren Kindern die Entscheidung selbst überlassen, ob und was sie glauben wollen, ob sie sich zur Konfirmation anmelden oder nicht, ob sie in die Kinderkirche gehen wollen oder eben nicht.

Reinhard Bingener schreibt:

Für die Kirche gewinnen die Befunde an Dramatik, weil vieles für die Unumkehrbarkeit und Potenzierung dieses Prozesses spricht. So erodiert die religiöse Sozialisation, die für die spätere religiöse Bindung von allergrößter Bedeutung ist, von Alterskohorte zu Alterskohorte. So sagen in Westdeutschland von den über 66 Jahre alten Kirchenmitgliedern 83 Prozent von sich, sie seien religiös erzogen worden. Bei den 30 bis 45 Jahre alten Mitgliedern sind es nur noch 67 Prozent und bei den 14 bis 21 Jahre alten ist es mit 49 Prozent nicht einmal mehr jeder zweite. Zudem denken zwei von fünf Mitglieder dieser jüngsten Altersgruppe ernsthaft über einen Kirchenaustritt nach. Gerade in Westdeutschland ist somit eine für die Kirche ungünstige Generationendynamik zu beobachten, während in Ostdeutschland, wo nun schon seit mehreren Generationen eine breite Mehrheit ohne religiöse Prägung aufwächst, sich die Lage unter den der Kirche verbliebenen Jugendlichen zumindest etwas besser darstellt; hier fühlen sich immerhin 64 Prozent religiös sozialisiert.

 

(…)

 

So belegen die Daten, dass Religion vor allem eine Sache des sozialen Nahbereichs ist. So ist für die spätere Kirchenbindung die Sozialisation in Kindheit und Jugend der entscheidende Faktor. Austausch über religiöse Fragen findet kaum über Medien und schon gar nicht über das Internet statt, sondern im Gespräch mit Familie und engen Freunden. Es dominiert die Face-to-face-Kommunikation. Ebenso wird die Kirche nicht als Großorganisation, Landeskirche oder Dekanat wahrgenommen, sondern als Ortsgemeinde, vertreten vor allem und mit überragender Bedeutung durch ihre Pfarrer und wahrgenommen insbesondere bei den sogenannten Kasualien wie Taufe, Trauung und Bestattung. Auch schon in losem Kontakt mit einem Pastor zu stehen, kommt statistisch beinahe einem Garantieschein gleich, dass die betreffende Person in der Kirche bleibt und ihre Kinder taufen lässt.

 

Stoppen oder gar umkehren lassen wird sich die Erosion der Mitgliedschaft, das ist in Anbetracht der Ergebnisse unabweisbar, auch durch größtes Bemühen nicht. Angesichts der Schubkraft der Säkularisierung erscheint die Gestaltungskraft der Kirche begrenzt. Es dürfte für sie darum gehen, nicht in Defätismus zu verfallen, sondern sich mit kluger Beharrungskraft auf jenen Feldern festzukrallen, auf denen sie nachhaltig Wirkungen erzielen kann. Diese Bereiche liegen nicht erst mit der aktuellen Mitgliedschaftsuntersuchung offen zu Tage. Die bisherige Erfahrung lehrt allerdings, dass es in Teilen der Führung der evangelische Kirche keine Scheu gibt, hartnäckig an den empirischen Erkenntnissen vorbeizuarbeiten.

 

aus dem FAZ-Artikel von Reinhard Bingener vom 9.3.2014 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/mitgliederuntersuchung-der-ekd-erosion-auf-fast-allen-ebenen-12838580.html

Für mich sind das deutliche Alarmsignale, auf die wir als Kirche reagieren müssen. Da wo die Kinder und Jugendliche kommen und gerne kommen, müssen wir ansetzen und die Anstrengungen deutlich verstärken. Wir brauchen starke Akzente in Richtung Verbindlichkeit und Reinstutionalisierung. Denn es gibt durchaus Ankerpunkte: 

Eine Tendenz zur Stabilität zeigt sich vor allem bei der Bereitschaft der Kirchenmitglieder, an den klassischen Kasualien teilzunehmen. So ist der Anteil derer, die sich für die Taufe ihres Kindes entscheiden würden, zwar gegenüber der IV. KMU gesunken (IV. KMU: 95 %, V. KMU: 89 %), bewegt sich im Gesamtvergleich (1972 – 2012) jedoch auf stabilem Niveau. Ähnlich stellt sich die Entwicklung bei dem Anteil der evangelischen Befragten dar, der angibt, konfirmiert und kirchlich getraut zu sein.

 

Ein anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man die Bereitschaft zur Inanspruchnahme der Kasualien mit ihrem tatsächlichen Vollzug vergleicht. Beispielsweise sind die Differenzen zwischen der stabil hohen Taufbereitschaft und dem deutlichen Rückgang der tatsächlich vollzogenen Taufen augenfällig. Ähnliche Differenzen ergeben sich im Blick auf kirchliche Trauungen und kirchliche Bestattungen. Und auch bei den Angaben zum Gottesdienstbesuch differieren die Selbsteinschätzungen zur Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs erheblich von der tatsächlichen Teilnahme. KMU 

Ebd. S. 20

Die klare Konsequenz daraus wäre für mich, ein Angebot wie Konfi 3 nicht mehr nur als Angebot laufen zu lassen, sondern verbindlich zu machen, mindestens in den Gemeinden, die es haben, in Württemberg immerhin 20 Prozent. Im Kanton Zürich geht es doch auch. Im Rahmen ihres Religionspädagogischen Gesamtkonzeptes (http://www.rpg-zh.ch/)  hat die reformierte Kirche dort etwas Ähnliches wie Konfi 3 eingeführt und für die Konfirmation für verbindlich erklärt – flächendeckend. Und siehe da: Kinder und Eltern haben nicht rebelliert, sondern waren dankbar für die Klarheit mit der kommuniziert wurde, dass Glaube und Bildung zusammengehören und man auch Zeit aufwenden muss, um in den Glauben hineinzuwachsen. Dafür sollten wir auch das im Moment doch vorhandene Geld in die Hand nehmen und uns mit dem schnöden Mammon Kirchenfreunde machen statt es für eine ungewisse Zukunft zu horten.

Kasualien wie Taufe und Konfirmation sind zum Glück nach wie vor Stabilitätsanker der Kirche, an ihnen können wir andocken. “Stärken stärken” muss das Motto lauten, nicht auf die Schwächen starren.

(1) Die evangelische Kirche wird von ihren Mitgliedern in erster Linie mit Gottesdiensten, und zwar vor allem mit Kasualien verbunden. Diese werden von 20 % der Evangelischen genannt, und zwar nicht selten als Reihung, etwa »Konfirmation, Taufe, Trauung, Beerdigung«. Konfirmation und Taufe stehen dabei klar im Vordergrund. Auch von konfessionslosen Befragten werden die Kasualien (mit 11 %) vergleichsweise häufig genannt. KMU 

Ebd. S. 33

 

 

Gottesdienste prägen das Bild von Kirche. Dass Gottesdienste allerdings in der Krise sind, spüren wir in der Konfirmandenarbeit schon länger, der empirische Nachweis, dass Konfirmand/innen Gottesdienste umso langweiliger finden, je häufiger sie an ihnen teilnehmen, hat große Betroffenheit ausgelöst, darf aber nicht zur Folge haben, dass wir Konfirmand/innen Gottesdienste ersparen, die meist offensichtlich nicht für sie gedacht und gestaltet sind. Andersherum wird ein Schuh und ein gangbarer Weg daraus: Gottesdienste müssen für die junge Generation attraktiv und spirituell ansprechend sein, sonst wird es in 50 Jahren vermutlich niemand mehr geben, der dort – angesichts der Möglichkeiten, die das Internet bis dahin bieten wird – freiwillig hingeht.

Ich wünsche mir, dass die 5. KMU als Weckruf gehört wird. Schon immer hat die Kirche sich besonders um die Jungen und um die Alten gekümmert. Die große Gefahr des demographischen Wandels ist es, dass die Kirche sich mehr um die zahlreicher werdenden Alten kümmert und dabei ihre Nachwuchspflege vernachlässigt. Das darf nicht passieren. Eine Pflanze braucht als Setzling besonders viel Pflege und Aufmerksamkeit. Erst recht dann, wenn wie heute nicht mehr jeder Same aufgeht. Aber das kennen wir ja aus einem Gleichnis von Jesus. Er hat übrigens ermutigt fleißig das Evangelium zu säen und nicht auf Bestandssicherung zu setzen.

Endzeitstimmung ist angesichts der neuen Daten sicher nicht angebracht, ein bisschen eschatologische Eile aber vielleicht schon. Ich wünsche mir eine Kirche, die jetzt deutlicher Akzente setzt beim Nachwuchs als bisher. Und dann erlebt, dass der Same aufgeht und viele zarte Pflänzlein wachsen auf einem Boden, der dringend der Wiederaufforstung bedarf.

Anregende Lektüre

Hier noch einige anregende Texte und Positionen:

Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – Wann wacht unsere Kirche auf?

7 Kommentare zu „Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – Wann wacht unsere Kirche auf?

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